Zurück
Gabriele Schmid:  Illusionsräume
Home

 

 

Camera obscura und Natureindruck

 

Die Verwendung mathematisch-perspektivischer Konstruktionsverfahren verleiht dem Dargestellten etwas Starres und Gefrorenes. Dem angestrebten Natureindruck kommt das Bild der Camera obscura näher, weil die Camera die zentralperspektivische Abbildung ohne Betonung von Fluchtlinien ermöglicht.1 Doch die Camera obscura ist ebenso wie die zentralperspektivische Konstruktion durch ihre funktionelle Beziehung zur Sehpyramide definiert, deren Spitze einen monadischen Blickwinkel bestimmt.2 "Die wissenschaftliche Beschreibung der Sehpyramide zeigt, daß es einen einzigen Punkt gibt, von dem aus eine offensichtliche Unordnung in eine Harmonie geformt werden kann."3

Die Camera obscura wurde als Analogon zum menschlichen Auge betrachtet. Wie schon im Falle der perspektivischen Konstruktion resultiert aus der Abstraktion vom menschlichen Wahrnehmungsvermögen die mögliche Erkenntnis dessen, der sich der Camera bedient. "Die Camera obscura mit ihrer monokularen Öffnung wurde zum vollkommeneren Begriff für eine Sehpyramide ... als der komplizierte binokulare Körper des menschlichen Subjekts. Die Camera war in gewissem Sinn eine Metapher für die rationalsten Möglichkeiten eines Betrachters in einer ... dynamischen, chaotischen Welt."4 Giersch sagt über die Verwendung der Camera bei der Herstellung von Panoramen: "Wenn die Camera obscura als Modell für die Optik des Auges betrachtet werden konnte, dann lieferte die Arbeit mit diesem Gerät die Garantie, ein wahres, retina-adäquates Bild herzustellen."5

Das Prinzip der Camera obscura ist seit mindestens 2000 Jahren bekannt. Vom Ende des 16. Jahrhunderts bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert verschmolzen die "strukturellen und optischen Prinzipien der Camera obscura zu dem tonangebenden Paradigma ..., mit dessen Hilfe der Status und die Möglichkeiten des Sehens beschrieben wurden."6 Giovanni Battista della Porta zählt zu den Erfindern der modernen Camera obscura. Sie galt Della Porta als Beleg dafür, "daß Beobachtung zu zutreffenden Rückschlüssen auf die Welt führen kann".7 In seiner Schrift 'Magia Naturalis' von 1558 entwickelte er ein Konzept der Welt als einer fundamentalen Einheit und beschrieb die Mittel, solche Einheit zu beobachten. Della Portas Betrachter sucht Einsicht in eine universelle Sprache der Symbole und Analogien, die sich möglicherweise zur Nutzung der Naturkräfte anwenden läßt. Della Porta stellte sich eine Welt vor, in der alles miteinander verbunden und verknüpft ist. Ein Ding erkennen heißt, mit ihm eins werden, und diese Einheit ist nur möglich, wenn der Erkennende und das Erkannte von gleicher Natur sind, wenn also das menschliche Auge der Camera gleichgesetzt wird.

Im 19. Jahrhundert wurde die Camera obscura, die noch ein Jahrhundert zuvor "als Hort der Wahrheit gegolten hatte, ... unter anderem in den Schriften von Marx, Bergson und Freud zum Inbegriff all jener Verfahren und Kräfte, die die Wahrheit verbergen, entstellen, vortäuschen."8 Zugleich mit ihren erkenntnistheoretischen Voraussetzungen sind die Bilder der Camera fragwürdig geworden. Denn die Funktion der vereinheitlichenden Sehweise, die die Camera obscura verkörpert, ist die Grundfunktion der Vernunft. "Rationale Ordnung und rationale Beherrschung des Gegebenen ist ohne seine strenge Vereinheitlichung nicht möglich."9 Das Paradigma der Camera obscura räumt zwar dem Sehen Priorität ein, doch dieses Sehen steht "a priori im Dienst eines nichtsinnlichen Denkvermögens, das allein einen wahren Begriff von der Welt gibt."10

Das Camera obscura-analoge Sehen ist derart instrumentalisiert, daß einem hierzu analogen Denken nicht vorstellbar ist, einem plötzlich sehend gewordenen Blinden könnte sich die Welt als selbstgenügsame Farbflecke zeigen: "Statt dessen war dieser allererste Moment des Sehens eine Leere, von der sich nichts sagen und die sich nicht vorstellen ließ, weil sie ohne Diskurs und daher ohne Bedeutung war. Sehen nahm erst dann ... Form an, als den jeweiligen Objekten Wörter, Verwendungen und Sprechakte zugeschrieben werden konnten. Cézanne, Ruskin, Monet und jeder andere Künstler des 19. Jahrhundert konnte sich nur deshalb eine 'Unschuld des Auges' vorstellen, weil sich zu Anfang des Jahrhunderts eine bedeutende und umfassende Umstrukturierung des Betrachters vollzogen hatte."11 Mit dem aufkommenden Modell des subjektiven Sehens im 19. Jahrhundert gewann der Betrachter eine bildkonstituierende Rolle.12 Doch noch ist es nicht so weit. Auch wenn Mesdag sich als Maler atmosphärischer Landschaften verstand, ist er von der Sehweise Cézannes oder Monets weit entfernt. Mesdag hat seine Empfindungen einem instrumentellen Wahrnehmungsmodell eingeordnet. Unter Maßgabe der Analogie der Camera obscura zum menschlichen Auge kann Mesdags Glaszylinder verstanden werden als gespiegelte Netzhaut eines Auges, das die Spitze der Sehpyramide einnimmt. Der Maler nimmt die Stelle des Apparates ein, um eine Vereinheitlichung seiner Wahrnehmung zu erreichen. Doch Panoramen sind nicht mehr, wie die finestra aperta, für einen starren, einäugigen Betrachter konzipiert. Ihr Betrachter ist - man denke an das faux terrain - zweiäugig und beweglich. Insofern markieren sie bereits das Ende der Vorherrschaft der Camera obscura, obgleich sie zu deren Anfertigung benutzt wurde. "Mit dem Übergang zu einer panoramatischen Raumstruktur wurde auch die Begrenztheit und Immobilität dieses Mediums im Hinblick auf die neuen Sehbedürfnisse offensichtlich."13

Die einäugige Camera obscura war mehr oder weniger auf die traditionelle Rahmenschau beschränkt. Auf diese Beschränkung reagierte die Stereoskopie. Zwar sind auch stereoskopische Bilder grundsätzlich auf Ausschnitte beschränkt, doch die Ausschnitthaftigkeit spielt eine geringere Rolle, da die Bilder in den direkt vor die Augen gehaltenen Sichtgeräten fast das gesamte Wahrnehmungsfeld ausfüllen. Die Binokularität wird jetzt als konstituierendes Moment menschlicher Wahrnehmung begriffen. Das Panorama antwortet darauf mit der Erfindung des faux terrain.14 Zugleich ist mit dem faux terrain Anschluß gefunden an die ältere Gattung Trompe-l'œil. Für das Trompe-l'œil ist laut Milman die Invasion (das Heraustreten des Dargestellten aus der Fläche) geeigneter als die Evasion (wenn das Dargestellte hinter die Fläche zurücktritt). Im Panorama ist für diese Forderung eine eigenwillige Lösung gefunden. Die Fernsicht, für die die Binokularität kaum eine Rolle spielt, liegt virtuell hinter der Leinwand, während die nahen Dinge im faux terrain plastisch hergestellt werden. Die illusionäre Wirkung wird verstärkt. Die realen Dinge in Mesdags Panorama - der Stuhl, die Holzbalken, das Fischernetz - befinden sich in greifbarer Nähe und sind zweifellos wirklich. Wirkliches Seegras ist in die Leinwand implantiert, und tatsächlich dauert es geraume Weile, bis man gemaltes Seegras von wirklichem Seegras unterscheiden kann.


Home

Inhalt

Weiter


 1 Als Analogie zum menschlichen Sehen galt auch die Beweglichkeit der auf dem Schirm der Camera sich abzeichnenden Bilder. "Oftmals zeigten sich die Beobachter beeindruckt davon, daß die flimmernden Bilder im Inneren der Camera, seien es Fußgänger oder sich im Wind bewegende Zweige, lebensechter wirkten als die Objekte selbst. Aus diesem Grunde sind die phänomenologischen Unterschiede zwischen der Erfahrung einer perspektivischen Konstruktion und den Projektionen der Camera obscura kaum vergleichbar... Bewegung und Zeit konnten gesehen und erfahren, nicht aber abgebildet werden." (Crary, 1996, S. 45.)

2 Svetlana Alpers unterscheidet das perspektivisch konstruierte Bild von dem der Camera obscura. Alpers zufolge handelt es sich "um zwei unterschiedliche Methoden, die Welt zum Bild zu machen: auf der einen Seite das Bild als ein Gegenstand in der Welt, ein gerahmtes Fenster, dem wir unser Auge zuwenden, und auf der anderen Seite das Bild, das an die Stelle des Auges tritt und dadurch den Rahmen und unseren Standpunkt unbestimmt läßt." (Alpers, zit. nach: Kambartel, 1989, S. 376.) Der erste Typus geht mit Dürers Verfahrensweise, die er in 'Underweysung der Messung' (Nürnberg 1538) beschreibt, konform, der zweite "geht nicht von einem Fenster sondern von einer Fläche [aus], auf der sich ein Bild der Welt niederschlägt, so wie das von einer Linse gebündelte Licht auf der Netzhaut des Auges ein Bild formt. An der Stelle des Künstlers, der die Welt in einen Rahmen stellt, um sie abzubilden, bringt die Welt hier ihr eigenes Bild hervor, ohne daß ein Rahmen notwendig wäre. Dieses replikative, durch Verdoppelung entstehende Bild ist einfach da, um angesehen zu werden, ohne daß ein menschlicher Gestalter eingegriffen hätte. So aufgefaßt, hat die Welt Vorrang gegenüber dem Künstler-Betrachter." (Alpers, 1992, S. 133.) Die erste Art behauptet: 'Ich sehe die Welt'. Die zweite zeigt, daß die Welt gesehen wird. Im zweiten Fall, meint Alpers, zeige sich ein Bruchstück der Welt, ohne daß die Position des Betrachters berücksichtigt werde. Das ist meines Erachtens ein Trugschluß, da das Bild der Camera wie die perspektivische Konstruktion auf dem Schnitt durch die Seh- oder Projektionspyramide beruht. Die beiden bildgebenden Verfahren unterscheiden sich dadurch, daß das zentralperspektivisch konstruierte Bild - meistens als Entität - komponiert ist, während das Bild der Camera obscura einen ausgewählten Ausschnitt aus einem größeren Ganzen wiedergibt. Zugleich untermauert Alpers mit solcher Sichtweise die Beurteilung der Fotografie als ein Medium, durch das die Natur sich selbst darstellen könne - mithin die Möglichkeit objektiver und 'wahrer' Konservierung der erscheinenden Dinge.

3 Michel Serres, zit. nach: Crary, 1996, S. 60.

4 Crary, 1996, S. 63.
Auch Descartes stellt in 'La dioptrique' von 1637 eine Analogie zwischen Auge und Camera obscura her. Descartes rät seinen Lesern, sich über diese Analogie Gewißheit zu verschaffen, indem sie sich "das Auge eines eben verstorbenen Menschen oder statt dessen eines Ochsen oder eines anderen großen Tieres ... verschaffen" um es als Linse in die Öffnung der Camera obscura einzusetzen. (Descartes, zit. nach: Crary, 1996, S. 57.) Durch die Trennung vom Körper des Betrachters wird das Auge in einen immateriellen Status erhoben. Descartes zieht die Abbildungen des Apparates den Sinneswahrnehmungen vor. "Die monokulare Optik des Gerätes hält man der physiologischen Funktionsweise des menschlichen Sehens gegenüber für überlegen, weil mit ihr nicht wie mit dem menschlichen Körper die theoretische Forderung verbunden ist, zwei verschiedene und daher provisorische Bilder ... zu vereinen." (Crary, 1996, S. 57f.)

5 Giersch, 1993, S. 99.

6 Crary, 1996, S. 41.

7 Crary, 1996, S. 41.

8 Crary, 1996, S. 41.

9 Cassirer, zit. nach: Crary, 1996, S. 65.

10 Crary, 1996, S. 65.

11 Crary, 1996, S. 73. .

12 Vgl. Kap. II.3, Subjektives Sehen.

13 Giersch, 1993, S. 99.

14 Das binokulare Sehen kommt am stärksten zum Tragen beim Betrachten naheliegender Gegenstände. Als Konsequenz sieht man während der Betrachtung des Nahen das Entfernte unscharf. Dieser Effekt tritt bei der stereoskopischen Aufnahme nicht ein, deshalb der scheibenartige Effekt. Es ist eine Frage des Maßstabs, und zugleich ist die räumliche Wahrnehmung in der Stereoskopie keine wirklich räumliche Wahrnehmung, da die Gegenstände ja tatsächlich unabhängig von ihrer Entfernung auf einer Ebene scharf abgebildet sind. Vielmehr wird räumliches Sehen simuliert, das stereoskopische Bild ist eigentlich eine Sinnestäuschung. (Vgl. Kap. III.12, Das holographische Stereogramm)


Home

Inhalt

Weiter