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Gabriele Schmid:  Illusionsräume
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Die Polyperspektive im Panorama

 

Für den Illusionsraum 'Panorama' mußten besondere perspektivische Verfahren zur Anwendung kommen. Mit perspektivischen Mitteln kann der dreidimensionale Raum überzeugend suggeriert werden, "doch stellt sich die Frage, ... welche Grenzen dem Täuschungsmanöver gesetzt sind... Im Endeffekt zeigt sich ..., daß hohe perspektivische Virtuosität die Trompe-l'œil-Wirkung beeinträchtigen muß. Denn je perfekter die perspektivische Ausführung ist, desto unfreier wird der Betrachter, der, ohne sich zu bewegen, das Trompe-l'œil nur von einem bestimmten Punkt aus anvisieren kann."1 Das Massenmedium Panorama erfordert eine besondere Vermittlungsstrategie. Die 'prospettiva legittima' konnte im Panorama deshalb keine Anwendung finden, da die 'richtige' Ansicht des Dargestellten von jedem Punkt der Plattform aus gegeben sein muß. Tatsächlich sind in Mesdags Panorama weder die Gesamtanlage noch die Details explizit zentralperspektivisch dargestellt. Beispielsweise sind fast alle der am Strand liegenden Boote leicht aus der Fluchtachse gedreht (Abb. 5).

Oettermann beschreibt die Konstruktionsweise der Polyperspektive im Panorama.2 Sie entsteht durch die kreisförmige Aneinanderreihung zentralperspektivisch konstruierter Einzelbilder. Die Ecken sind als Kreissehnen eines Horizonts zu verstehen. Im nächsten Arbeitsschritt werden die bisher nur aneinandergereihten Bilder zu einem einzigen vereint. Das eckige Prisma wird zum Zylinder gewölbt, wobei die dadurch an den ehemaligen Kanten der Einzelbilder entstehenden perspektivischen Verzerrungen korrigiert werden müssen. "Dieses Vorgehen kann man als Abkürzung eines Prozesses verstehen, bei dem die Kreissehnen, d.h. die Bildflächen immer schmaler, ihre Anzahl aber - und damit auch die der Augenpunkte - immer größer werden... Bei einem vollendeten Kreisbogen nun ist die Anzahl der Augenpunkte unendlich; die Augenpunkte verschmelzen zum Horizont."3 Theoretisch können im Panorama, das in der Horizontalen über unendlich viele Augenpunkte verfügt (die vertikale Betrachterhöhe ist durch die Horizontlinie festgelegt), unendlich viele Betrachter das sie umgebende Bild unverzerrt betrachten. Tatsächlich konnten, "nachdem der mathematische Betrachterstandpunkt zur Plattform vergrößert war, bis zu 150 Personen das Bild gleichzeitig ansehen."4

 


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 1 Milman, 1984, S. 33.


2 Die Polyperspektive des Panoramas hat nichts gemein mit der Polyperspektive mittelalterlicher Darstellungen. Jene ist die Vervielfachung eigentlich zentralperspektivischer Standortfestlegung, während letztere mit ihren drei- und vierseitigen Ansichten - psychologisch gesprochen - eher der Konstanztendenz des Gesichtssinns entspricht. In diesem Zusammenhang ist die Polyperspektivität in der Moderne des 20. Jahrhunderts eher als Subjektivierung mittelalterlicher Darstellungsformen anzusehen, denn als Bruch mit dem gleichfalls vom Subjekt aus konstituierten Renaissancemodell.

3 Oettermann, 1980, S. 26. Oettermann verwechselt hier den Augenpunkt mit dem Fluchtpunkt. Vgl. I.10, Perspektive und Mathematik.

4 Oettermann, 1980, S. 26.
Die Polyperspektive bezeichnet Oettermann als eine Demokratisierung des Blicks; in Absetzung vom höfischen Theater, in welchem die Perspektivkonstruktion auf den Prospekten auf einen exklusiven Punkt, auf die Fürstenloge, hin berechnet war. Insofern sieht Oettermann das Panorama nicht als Abkömmling der Bühnenmalerei an, sondern als eine kritische Auseinandersetzung mit ihr. (Vgl. Oettermann, 1980, S. 20.)


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