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Gabriele Schmid:  Illusionsräume
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Die Perspektive

 

Das fotografische Bild ist - abgesehen von der Speichermöglichkeit des fotografischen Films - identisch mit dem Bild der Camera obscura. Das Bild auf dem Schirm der Camera obscura ist - abgesehen von seiner Flüchtigkeit - identisch mit der zentralperspektivischen Konstruktion. All diesen bildgebenden Verfahren liegt der Schnitt durch eine gedachte Sehpyramide zugrunde. Bis zum 18. Jahrhundert nahm der Wahrheitsgehalt, der den so entstandenen Bildern zugesprochen wurde, tendenziell zu. Im 19. Jahrhundert kulminierte diese Vorstellung, und zugleich wurde in der Erforschung des subjektiven Sehens mit ihr gebrochen. Das Panorama ist an beidem beteiligt. Was auf der Leinwand erscheint, ist das modifizierte Bild der Camera obscura. Zugleich erfordern die Rezeptionsvorgaben in viel stärkerem Maße als ein Tafelbild die Bewegung nicht nur des Blicks, sondern auch des Körpers. In diesen Bewegungen erst konstituiert sich das Erlebnis 'Panorama'. Die Rezeptionsweise, die die Konstruktion des Panoramas vorgibt, betrifft nicht nur das Panorama als Artefakt. Darstellungsweise und Sujet verdeutlichen zugleich, in welcher Weise Natur rezipiert wurde.

Die Entwicklung perspektivischer Verfahren und deren sich wandelnde Verwendung zum Erzeugen illusionistischer Räume hängen eng zusammen. "Die Kunst der Perspektive, einst das Signal einer neuen Epoche, ja der Geburtsstunde eines eigenen Bereichs von Kunst überhaupt, nachmals zur Illusionistik vervollkommnet und verselbständigt - zu einer erhabenen in den Kirchen der Gegenreformation und in der Oper, und einer spielerischen, wenngleich nicht geheimnislosen in den fürstlichen Gärten des späten Barock - diese merkwürdige und gefährliche, magische, ja schwarze Kunst hat schließlich, Elemente aller ihrer vorigen Stufen mitführend, das Panorama hervorgebracht. Ihr letztes Wunder, das endlich schal ward und ganz gewöhnlich schien. Ob es 'Kunst' sei, wird am Ende zu einer müßigen Frage, wenn man recht bedenkt, was der Bürger Dufourny in seinem Bericht über diese Erfindung vor dem Pariser Nationalinstitut im Jahre VIII der Republik als ihre höchste Wirkung schilderte: Den Beschauer so weit zu täuschen, 'daß er zwischen Natur und Kunst zweifelhaft inne stehen müßte'".1

Das von Sternberger angesprochene Fragen nach Wesen und Wert der Vermittlungsstrategie 'perspektivische Konstruktion' läßt sich bis in die Antike zurückverfolgen. Dem antiken Verständnis teilte sich im illusionistisch geschaffenen Abbild keine Wahrheit mit. Einen phänomenologischen Zugang zum Sein des Seienden gab es nicht. Platon verstand die sichtbaren Dinge als unvollkommene Erscheinungen von zugrunde liegenden Ideen. Er kritisierte die perspektivische Darstellung, da sie die wahren Maße der Dinge verzerre und subjektive Willkür an die Stelle der Wirklichkeit setze. Die illusionistische Darstellung im platonischen Verständnis kann man als eine Erscheinung zweiten Grades bezeichnen: als die Erscheinung einer Erscheinung.

Die Anwendung exakter perspektivischer Bildkonstruktion hat sich für die Antike als unwahrscheinlich erwiesen. "Die antike perspectiva communis versuchte, mit einer Geometrisierung des Sehens der Wahrnehmung gerecht zu werden."2 Sie basiert auf der Annahme, das Sehen erfolge durch Strahlen, welche das Auge und den Gegenstand auf dem kürzesten Wege miteinander verbinden. Die Lage dieser Sehstrahlen zueinander bestimmt, auf welche Weise die Punkte der Gegenstände eine Entsprechung im Gesichtsfeld finden. Den Euklidischen Theoremen liegt die Sehpyramide zugrunde, "also jener Strahlenkegel, dessen Spitze im Auge liegt und dessen Basis die sichtbare Oberfläche der Gegenstände ist".3 Euklid faßte das Bild noch nicht als ebenen Durchschnitt durch die Sehpyramide auf.

Die antike Optik wird nicht im engeren Sinne als mögliche Bildkonstruktion verstanden. Allein Vitruvs Formulierungen in 'de architectura' deuten eine Bildkonstruktion an: "Scaenographia ist die 'illusionistische' Wiedergabe der Fassade und der Seitenfronten und die Entsprechung aller Linien in bezug auf den Kreismittelpunkt".4 Die Perspektive wurde wohl zuerst im Zusammenhang mit der Scaenographia (dem Bühnenbild) eingesetzt.

Im römischen Amphitheater umschloß der halbkreisförmige Zuschauerraum eine zwei- bis dreistöckige Szenenwand. Die Schaufassade war im römischen Palaststil gebaut. Die Fassade, die scenae frons, hat Öffnungen und Portale, durch die die Schauspieler auftreten. Ein besonderes Portal in der Mitte ist der Fürstenloge als Analogon gegenübergestellt. "Die scenae frons ist die architektonische Präsentationsform des Theaters und gehört noch nicht dem Bereich der Fiktion an... In den Durchblicken der scenae frons erscheint ein gemalter, d.h. fiktiver Ort, der sich durch sein besonderes decorum auf die Handlung des Spiels bezieht."5 Das römische Theater versteht, wie viel später das Panorama, den Ort - die Spielstätte - als Handlungsraum.

Die Renaissance nahm die antike scenae frons wieder auf. Wie in der Antike wird die Analogie von realem und fiktivem Ort ausgedrückt "durch die gemeinsame Symmetrieachse, an der sich der Fürstenthron und die Bühnenarchitektur ordnen."6 Palladio rekonstruierte die Palastfassade des antiken römischen Theaters und baute in die Öffnungen sich perspektivisch verjüngende Straßenfluchten ein. Aus den drei Bühnenöffnungen wurde bald eine einzige große, und der perspektivische Illusionsraum gab dem Bühnenbild räumliche Selbständigkeit. Der Vorhang schloß die vierte Wand und bildete einen Abschluß zum Betrachter.

Im Barock dominierte der Illusionsraum den Handlungsraum. Die Theatermalerei in handwerklich-künstlerischer Vollendung "wurde zum Selbstzweck und diente in keinem Fall mehr dem Stück."7 Im romantischen Bühnenbild wurde das Bühnengeschehen zum Historienbild mit eingefügten wirklichen Architekturelementen, die unmittelbaren Anschluß an die Wirklichkeit gewähren sollten. Aus der Verselbständigung der romantischen Bühnendekoration entstand das Panorama als bühnenhafter Handlungsraum. Wie sich zeigen wird, wurzelt dieser Raum in den ontologischen Voraussetzungen des mathematischen Perspektivraums, der den Handlungsraum der Renaissance begründete.

 


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 1 Sternberger, 1955, S. 221. Vgl. Anm. 1, I.4

2 Boehm, 1969, S. 12.

3 Boehm, 1969, S. 12.

4 Vitruv (I, 2,2), zit. nach: Boehm, 1969, S. 16.
"Zuerst hat Agatharch, als Aeschylos zu Athen seine Tragödien auf die Bühne brachte, eine scena gemacht und eine Abhandlung darüber hinterlassen. Durch ihn angeregt, haben Demokrit und Anaxagoras über dieselbe Sache geschrieben, nämlich darüber, wie die Linien, wenn der Mittelpunkt an einer bestimmten Stelle angenommen wird ..., nach den Naturgesetzen dem Ort der Sehkraft und der geradlinigen Ausdehnung der Sehstrahlen entsprechen müssen, damit deutliche Bilder von undeutlichen (d.h. entfernten) Gegenständen in den Bühnenmalereien die Erscheinung der Gebäude wiedergeben könnten und das auf ebenen und frontalen Flächen Dargestellte teils zurückweichen, teils hervorzuragen scheine". (Vitruv (VII, Prooemium), zit. nach: Boehm, 1969, S. 16.)

5 Mühlmann, 1981, S. 139.

6 Mühlmann, 1981, S. 140.

7 Gallée, 1992, S. 28.
Die Verselbständigung des Prospekts läßt sich am Beispiel Daguerres zeigen. Daguerres Karriere vollzog sich parallel zur Entwicklung des Realismus. Daguerre arbeitete seit 1804 als Bühnenmaler, bis er 1822 das Diorama erfand. Als Bühnenmaler benutzte Daguerre anstelle des traditionellen Dekors, "jener monotonen Reihung von Kulissen zu beiden Seiten der Bühne, die mit einem Hintergrundvorhang endeten, ... eine panoramatische Ausstattung, bei der sich ein dunkler Vordergrund auf einen Hintergrundvorhang hin öffnet und die man als Prototyp des Dioramas von 1822 bezeichnen kann." (Daniels, 1993, S. 37.) Ein Resultat - und Beweggrund für Daguerre, das Theater zu verlassen - war, daß aufgrund der Bemühungen um Realismus das Bühnenbild in Konkurrenz zum Schauspieler trat. "Daguerres Verfahren erforderte sowohl die Beschränkung der Lichtquelle auf den hinteren Bühnenteil als auch weitgehendste Eindunkelung des Proszeniums. Das Ergebnis war ein Verlust an Bedeutung des Schauspielers zugunsten der Bühnenausstattung, was dem Maler zwar durchaus dienlich war, in ästhetischer Hinsicht jedoch große Probleme bereitete." (Daniels, 1993, S. 38.) Daguerres Diorama zeigt den Zuschauern einen großen Kulissenvorhang, von Maschinen- und Maltechniken des Theaters animiert, jedoch ohne Schauspieler. Später wurde die von Daguerre entwickelte Technik der transparenten Bilder wieder im Theater eingesetzt, z.B. für Richard Wagners Festspiele in Bayreuth (Vgl. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn (Hrsg.), 1993, S. 205.).


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