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Gabriele Schmid:  Illusionsräume
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Die Gegenstände in den Nymphéas

 

Will man die Gegenständlichkeit in den Nymphéas beschreiben, so gerät man schon nach den ersten zögernden Schritten in Verwicklungen. Man kann sagen: ein Seerosenteich. Einzelne Blüten kann man ausmachen, und ovale Blätter (Abb. 7, 8). Die Bäume mit den herunterhängenden Zweigen, das sind unzweifelhaft Trauerweiden (Abb. 23, 24). Also Bäume, könnte man aufzählen, und Seerosen, und Wasser.

Steht man in Giverny vor dem großen Seerosenteich, dann ist alles ganz einfach. Es gibt den Wasserspiegel, darauf, gefällig verteilt, Seeroseninseln (Abb. 9, 10). Das herausstechendste Merkmal von Wasser in der Natur ist, daß es sich fast immer bewegt und daß seine spiegelnde Oberfläche die Umgebung aufnimmt. Und durchsichtig ist es, so daß man manchmal den Grund sehen kann. Der Teich ist eingebettet in eine üppig wuchernde Flora. Trauerweiden stehen am Ufer, ihre Zweige reichen bis auf den Wasserspiegel. Brücken führen über den Ab- und Zufluß des Teiches. Ordentliche Wege sind angelegt - bequem kann man den Teich umrunden und auf seinen Wasserspiegel hinabblicken. Dort sieht man Wolken, Himmelsausschnitte, reflektierte und reale Pflanzen und wehendes Seegras am Grund des nicht sehr tiefen Teichs. Spiegelung hin oder her: hier gibt es ein Oben und ein Unten, der Teich hat einen Ort, vor uns, inmitten von Monets Anwesen. Hier sind, scheint es, keinerlei Uneindeutigkeiten.

In der Orangerie ist alles anders. Ein ununterscheidbares Geflecht bilden die Dinge und die Spiegelungen. Kaum Ufer ist auszumachen, es gibt keinen Horizont. Da vor den Tafeln die Binokularität uns nicht weiterhilft und keinerlei Perspektive einen Anhalt bietet, können wir die Tiefenebenen nicht unterscheiden. Auf derselben Ebene scheinen die Wolken zu liegen mit dem Seegras und mit den Wasserrosen. Immer vieldeutiger werden die räumlichen Verhältnisse. Was eben noch eine feste Farbfläche war, beginnt als virtuelle Wasserscheibe sich quer in den Raum zu legen. Was eben noch ein Pinselstrich zu sein schien, fest und energisch gezogen, wird zum flirrenden Reflex, der sich vor unseren Augen zu bewegen scheint.

Aus der Nähe betrachtet zerfallen Monets Bilder in unzusammenhängende Stücke. "Aber aus größerem Abstand betrachtet, liefern die Landschaften Monets eine Illusion räumlicher Tiefe, die so überzeugend ist wie die stereoskopischen Fotografien, die damals als Neuheit die Runde machten. Abhängig vom Standpunkt des Betrachters kann daher jedes Werk von Monet als reine Malerei oder auch als reine Illusion betrachtet werden."1 Die veränderlichen und deutenden Sichtweisen der Betrachter leiten die Erfahrungen vor den Werken ebenso, wie der besondere Blick des Malers auf die Erscheinung der Dinge.

Monet scheint die Materialität der Farbe, die ebene Leinwand, die flirrenden Reflexe, die atmosphärischen Verdichtungen und die ziehenden Wolken in einem Blick gehabt zu haben. "Wie jeder andere", schreibt Clemenceau, "habe ich schon festgestellt, daß in der Entfernung von der Leinwand, wo Monet sich notwendigerweise zum Malen aufstellte, der Beschauer nur ein wildes Durcheinander von Farben wahrnimmt. Geht er jedoch einige Schritte rückwärts, so erlebt er, wie auf dieser selben Leinwand sich die Natur wieder wunderbar zusammenfügt, sich anordnet mitten im unentwirrbaren Durcheinander vielfarbiger Flecke, die uns beim ersten Anblick bestürzen."2 Monets Intention war es offenbar nicht, Empfindungsphänomene nach gegenständlichen Kategorien zu klassifizieren, in eindeutig Ablesbares zu übersetzen und uns so den zwar illusionären, doch identifizierbaren Anblick seines Gartenteiches zu bieten. Er hat das, was in Giverny so eindeutig zu sein scheint, anders in den Blick gefaßt.


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1 Stuckey, 1994, S. 29.

2 Clemenceau, 1929, S. 35f.
Clemenceau führt wieder die besondere Wahrnehmungsfähigkeit Monets an: "Wie vermochte Monet, der seinen Standort beim Malen nicht verließ, von dem gleichen Punkt aus die Auflösung und das Wiederzusammenfließen der Farbtöne zu erfassen, die ihm gestatteten, die gesuchte Wirkung zu erreichen? Zweifellos handelte es sich dabei um den Zustand eines unendlich zarten Empfindens, das immer bereit ist, zu allen äußeren Vorgängen entsprechende Reaktionen, auf der Netzhaut Reihen von Augenblicksbildern, vermittels einer geschmeidigen Anpassung aufeinander folgen zu lassen." (ebd.)


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