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Gabriele Schmid:  Illusionsräume
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Zeichenhaftigkeit und Konstruktivismus

 

Goethes und Helmholtz' Ausführungen zur Subjektivität des Sehens haben gezeigt, daß von einer Übertragung physikalischer Gegebenheiten in Malerei nicht die Rede sein kann. Was wir empfinden und umsetzen können, sind Wirkungen auf unseren Sinnesapparat. Folglich ist jedes Bild (im Verhältnis zu 'realen' physikalischen Gegebenheiten) eine Illusion. Und man kann nicht nur das gemalte Bild als illusionär bezeichnen, sondern jede Empfindung überhaupt.

Helmholtz nennt die Nichtübereinstimmung von physikalischen Gegebenheiten und Empfindungen Zeichenhaftigkeit. Das rückt ihn in die Nähe aktueller konstruktivistischer Positionen. Die neuere sinnesphysiologische Forschung ist dabei, das naturalistische Verständnis des Sehens von naturwissenschaftlicher Seite aus zu überwinden, eine Tendenz, die sich nach Gottfried Boehm mit "Gehirnwissenschaft als Geisteswissenschaft"1 umschreiben ließe. Die wesentlichen Konzepte der Neurobiologie und Hirnforschung wurden im letzten Jahrhundert und in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts durch Forscher wie Johannes Müller, Helmholtz, du Bois-Reymond (beide Schüler Müllers), Hering und Fechner entwickelt. Zwar kennen wir heute die chemischen und physikalischen Vorgänge sehr viel detaillierter, doch konzeptionell gab es kaum grundlegende Veränderungen.2

Bereits Johannes Müller hatte es aufgegeben, das Auge als Analogon der Camera obscura zu beschreiben, als er ihm eine spezifische Sinnesenergie zumaß. Müllers Theorie, 1833 in seinem 'Handbuch der Physiologie des Menschen' veröffentlicht, basiert auf der Entdeckung, daß Nerven verschiedener Sinnesorgane physiologisch verschieden sind, d.h. daß spezifische Nerven nur für eine bestimmte Art der Sinneswahrnehmung geeignet sind und sich auf die Art der Sinneswahrnehmung anderer Organe nicht übertragen lassen. "Sie ging schlicht davon aus - und das machte sie zum erkenntnistheoretischen Skandalon - daß eine einzige Ursache ..., je nachdem auf welchen Nerv sie trifft, grundsätzlich verschiedene Empfindungen auslöst. Wenn Elektrizität auf den Sehnerv trifft, produziert sie die Wahrnehmung von Licht, trifft sie auf die Haut, so löst sie die Empfindung aus, man werde berührt."3 Umgekehrt rufen verschiedene Ursachen, wenn sie auf denselben Nerv treffen, die gleiche Empfindung hervor. Jede Einwirkung, die den Sehnerven in Erregung versetzt, kann Lichtempfindungen hervorrufen. Sehnerven können erregt werden von bestimmten elektromagnetischen Schwingungen (die man nur wegen ihrer Wirkung auf das Auge 'Licht' nennt), von mechanischen Einflüssen wie Stoß oder Schlag, von Elektrizität oder auch von chemischen Einflüssen wie Narkotika. Durch all diese Einwirkungen kann "eine Empfindung [hervorgerufen werden], welche derjenigen, die durch äusseres Licht entsteht, so ununterscheidbar ähnlich ist, dass Leute, die das Gesetz dieser Erscheinungen nicht kennen, sehr leicht in den Glauben verfallen, sie hätten eine wirkliche objective Lichterscheinung gesehen."4

Müller stellt das Sehen zwar noch als etwas Spezialisiertes, von den anderen Sinnen Getrenntes dar, doch seine Bestimmung des Sehens entspricht nicht mehr den klassischen Erklärungsmodellen. Müllers Theorie enthält vielmehr bereits im Kern die These des radikalen Konstruktivismus, nach der wir mit Hilfe unserer Sinnestätigkeit Wirklichkeit konstruieren, ohne daß wir jemals Zugriff haben könnten auf eine etwa dahinter verborgen liegende Realität. Solche Sichtweise hat Auswirkungen auf den Wirklichkeitscharakter von Bildern: Sie sind jetzt nicht mehr oder weniger illusionär als Naturphänomene. "Die Theorie der spezifischen Sinnesenergien schildert bereits die groben Züge einer visuellen Moderne, in der die 'referentielle Illusion' unerbittlich freigelegt wird. Der Verlust der Referentialität ist erst die Grundlage, auf der neue instrumentelle Techniken für den Betrachter eine neue 'wirkliche' Welt bilden werden."5 Die physiologisch fundierte Natur des Betrachters läßt den Unterschied zwischen 'Innen' und 'Außen' hinfällig werden: "Letztlich wird das Sehen neu definiert als die Fähigkeit, von Sinneswahrnehmungen affiziert sein zu können, die nicht notwendigerweise einen Bezugspunkt in der äußeren Welt haben".6 Mit dem Verhältnis von Außenwelt und Empfindung haben sich schon Müller und Helmholtz beschäftigt. Heute kann aus naturwissenschaftlicher Sicht auf sehr viel sichereren Fundamenten gesagt werden, "daß Wahrnehmung tatsächlich ein Tun ist ... (sic), das Ergebnis einer Suche nach bestmöglicher Interpretation von Nervensignalen aus den Sinnesorganen".7


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1 Vgl. Boehm, 1997, S. 273.

2 Vgl. Gerhard Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. (Roth, 1994)

3 Crary, 1996, S. 95f.

4 Helmholtz, 1868, S. 267.

5 Crary, 1996, S. 97.

6 Crary, 1996, S. 97.

7 Ingo Rentschler, zit. nach: Boehm, 1997, S. 284.


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