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Gabriele Schmid:  Illusionsräume
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Wirklichkeit

 

Die Deutungsmuster und die Weltbilder, die wir immer mit uns herumtragen, sind nicht ein für allemal festgelegt. Sie werden geformt und umgeformt durch das Handeln in der Wirklichkeit. Helmholtz vertraut zwar auf das Kausalgesetz als der Voraussetzung aller begrifflichen Denktätigkeit, doch zugleich weist er auf die Begrenztheit von Symbolsystemen, in denen sich die Denktätigkeit äußert. Der Ausschluß von Substanzen, die den Erscheinungen zugrunde lägen, ermöglicht erst den Blick auf Wirklichkeit. Was Wirklichkeit sei, erläutert Helmholtz etymologisch: "Wir haben in unserer Sprache eine sehr glückliche Bezeichnung für dieses, was hinter dem Wechsel der Erscheinungen stehend auf uns einwirkt, nämlich 'das Wirkliche'. Hierin ist nur das Wirken ausgesagt; es fehlt die Nebenbeziehung auf das Bestehen als Substanz, welche der Begriff des Reellen, d.h. des Sachlichen einschließt."1 Mit dieser Wendung schließt sich Helmholtz fast wörtlich Schopenhauer an, der die Verbindung zwischen Wirklichkeit und Sein am Beispiel der Farbwahrnehmung erläuterte: "'Der Körper ist roth' bedeutet, daß er im Auge die rothe Farbe bewirkt. Seyn ist überhaupt mit Wirken gleichbedeutend: daher auch im Deutschen, überaus treffend und mit unbewußtem Tiefsinn, Alles was IST, WIRKLICH, d.i. wirkend, genannt wird."2
Mit der Beschränkung auf das Wirkliche ist viel gewonnen. Sie erlaubt, einen Blick auf die Phänomenalität zu werfen, die Monet im Auge hatte, ohne das Phänomenale auf Begriffe rückführen zu müssen. Es ergibt sich die Möglichkeit einer Hermeneutik, die auf einem nicht reduzierten, tendenziell zweckfreien, 'sehenden' Sehen beruht; denn solches Sehen steht nicht länger ausschließlich im Dienst biologischen Überlebens. Die physiologischen und physikalischen Voraussetzungen des sehenden Sehens konnten erläutert werden. Doch naturwissenschaftliche Modelle und Kunstwerke können nur in Form einer Analogie zueinander gesehen werden. Die Kunst aus der Physiologie herzuleiten, das erlauben weder das Fragmentarische naturwissenschaftlicher Bereichstheorien, noch die Phänomenalität des Kunstwerks, das durch eine Überführung in Sprachliches ja immer schon verändert wird.3 Solche Deutung widerspräche wohl auch den Intentionen des Malers, der sich gegen das Theoretisieren über Kunst gewehrt hat: "J'ai toujours eu horreur des théories",4 schrieb Monet 1926 in einem Brief an Evan Charteris. Und: "Ich wüßte nicht," schreibt Clemenceau, "daß Monet sich je in den Kopf gesetzt hätte, seine Malerei zu erklären. Nichts wäre ihm unnützer erschienen."5 Monet legte seine Priorität auf das Wirkliche, und die Wirklichkeit seines Gartens schien er der Kunstwirklichkeit noch vorzuziehen. An seinen Gärtnerfreund Mirbeau schrieb er: "Ich bin sehr froh, daß Du [den Maler] Caillebotte mitbringst. Wir werden über Gartenbau reden, ... denn was Kunst und Literatur angeht, ist alles Humbug. Es gibt nichts außer der Erde... Ich habe den Punkt erreicht, wo ich einen Klumpen Erde für etwas ganz Außerordentliches halte, und ich kann Stunden damit zubringen, ihn zu betrachten. Und Humus! Ich liebe Humus, wie man eine Frau liebt. Ich reibe mich damit ein, und in den dampfenden Haufen sehe ich die wunderschönen Formen und Farben, die daraus geboren werden! Wie wenig Kunst daneben bedeutet! Und wie affektiert und falsch sie im Vergleich dazu ist."6

Den Vorrang der Erfahrung der Wirklichkeit vor der Erfahrung der Kunst beschreibt Aldous Huxley in 'Die Pforten der Wahrnehmung'. Huxley erzählt, wie er unter Meskalineinfluß einen Sessel wahrgenommen habe, wie ein 'Ding an sich'. Eine ähnliche Qualität schreibt er einem von Van Gogh gemalten Sessel zu, weist jedoch zugleich darauf hin, daß der gemalte Sessel im Verhältnis zum wirklichen den Charakter eines Verweises behielte: "Zwar war er unvergleichlich wirklicher als der Sessel, den einem die gewöhnliche Wahrnehmung vor Augen führt, dennoch blieb der Sessel auf seinem Bild nicht mehr als ein ungewöhnlich ausdrucksvolles Symbol des tatsächlichen... Derartige Sinnbilder sind Quellen wahrer Erkenntnis über die Natur der Dinge, und diese wahre Erkenntnis kann dazu dienen, den Geist, der für sie offen ist, auf eigene unmittelbare Einblicke vorzubereiten."7 Kunst kann Naturerfahrung nicht ersetzen. Doch die Erfahrung, die sie ermöglicht, kann Betrachter prinzipiell befähigen, einen Blick auf die naturwirkliche Phänomenalität zu werfen, der in der Spur von Monets erweiterter Wahrnehmung läuft.


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 1 Helmholtz, 1896, S. 592.

2 Schopenhauer: Vom Sehn (1. Kapitel von "Ueber das Sehn und die Farben", erschienen 1816), 1997, S. 201.

3 Vgl. die Grundannahmen der Ethnomethodologie in der Einführung.
Goethe hat sich dazu am Ende seiner Farbenlehre in den 'Schlußbetrachtungen über Sprache und Terminologie' folgendermaßen geäußert: "Man bedenkt niemals genug, daß eine Sprache eigentlich nur symbolisch, nur bildlich sei und die Gegenstände niemals unmittelbar, sondern nur im Widerscheine ausdrücke. Dieses ist besonders der Fall, wenn von Wesen die Rede ist, welche an die Erfahrung nur herantreten und die man mehr Tätigkeiten als Gegenstände nennen kann, dergleichen im Reiche der Naturlehre immerfort in Bewegung sind. Sie lassen sich nicht festhalten, und doch soll man von ihnen reden; man sucht daher alle Arten von Formeln auf, um ihnen wenigstens gleichnisweise beizukommen... Könnte man sich jedoch aller dieser Arten der Vorstellung und des Ausdrucks mit Bewußtsein bedienen und in einer mannigfaltigen Sprache seine Betrachtungen über Naturphänomene überliefern, hielte man sich von Einseitigkeit frei und faßte einen lebendigen Sinn in einen lebendigen Ausdruck, so ließe sich manches Erfreuliche mitteilen. Jedoch wie schwer ist es, das Zeichen nicht an die Stelle der Sache zu setzen, das Wesen immer lebendig vor sich zu haben und es nicht durch das Wort zu töten. Dabei sind wir in den neuern Zeiten in eine noch größere Gefahr geraten, indem wir aus allem Erkenn- und Wißbaren Ausdrücke und Terminologien herübergenommen haben, um unsre Anschauungen der einfacheren Natur auszudrücken... Wie oft wird nicht das Allgemeine durch ein Besonderes, das Elementare durch ein Abgeleitetes mehr zugedeckt und verdunkelt, als aufgehellt und näher gebracht." (Goethe, 1810, §§ 751ff, S. 324f.)

4 Brief Monets an Evan Charteris (21. 1. 1927). Zit. nach: Sagner-Düchting, 1985, S. 5.

5 Clemenceau, 1929, S. 27.

6 Monet an Mirbeau, zit. nach: Gordon/Forge, 1985, S. 221.

7 Huxley, 1954, S. 24.


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