Gabriele Schmid

Welten - Bausteine der Wirklichkeit

Manuskript des Einführungsreferats zur Ausstellung
von Axel Möckel im Stadtmuseum Siegburg, 1999.

 

Meine Damen, meine Herren.

Die Gespräche, die Axel Möckel und ich in den letzten Wochen und Monaten über seine Arbeiten geführt haben, umkreisten immer wieder ein für ihn zentrales Moment: Nämlich das Verhältnis, in dem die von ihm geschaffene Wirklichkeit der Kunst zur Wirklichkeit von Rezipienten steht. Nun hat Axel Möckel seine Ausstellung hier in Siegburg 'Welten - Bausteine der Wirklichkeit' genannt. Ich habe unsere Gespräche deshalb zum Anlaß genommen, den Titel einmal wörtlich zu nehmen, und bald schien mir in Möckels Formulierung eine merkwürdige Absurdität zu liegen. Denn in der gewöhnlichen Alltagssprache nennen wir 'Welt' das, worin wir leben; und benutzen wir den Plural, vermuten wir andere Welten eher auf fremden Sternen. Sprechen wir dagegen von Wirklichkeit, sind wir eher geneigt einzuräumen, daß es verschiedene Wirklichkeiten geben könnte; denn kulturelle Gebundenheit und historische Bedingtheit schwingen in unserem Verständnis von Wirklichkeit mit.
Axel Möckel hat das alltägliche Verständnis von 'Welt' und 'Wirklichkeit' umgekehrt, indem er Plural und Singular vertauschte. Mit - dem Trick könnte man sagen - solcher Umkehrung befragt er den vertrauten Gebrauch dieser Worte - und zugleich die Konditionen seines und unseres In-der-Welt-seins.

Axel Möckel ist weit davon entfernt, uns erklären zu wollen, was das ist: die Welt und die Wirklichkeit. Axel Möckel stellt vielmehr Fragen in Form von - gewissermaßen laborhaft erzeugten - Weltmodellen. Doch betrachtete man Möckels Kunstwelten als autonome, sich selbst genügende Gebilde - etwa der idealistischen Auffassung vergangener Jahrhunderte zufolge oder nach dem Modell der klassischen Moderne - faßte man Möckels Weltmodelle also in solcher Tradition als Weltentwürfe auf, übersähe man die Stoßrichtung seines Werks. Denn Möckel versteht seine Welten genau so, wie es der Titel der Ausstellung nahelegt: als Bausteine von Wirklichkeit. Die modellhaften Kunstwelten können so zum Anstoß werden, der uns unser alltägliches Wirklichkeitsverständnis reflektieren läßt. Denn Möckels Kunst zielt auf eine vom bewußten Erleben der Alltagswelt nicht verschiedene Erfahrung, und es ist ihr Anliegen, ein fühlbares Stück Welt zu erschließen.
Um seinen Modellen zu ermöglichen, derart zu wirken, knüpft Möckel mit seiner komplexen Installation ganz eng an die Bedingungen alltäglicher Wahrnehmung an - in der Visuelles immer mit Akustischem und Räumlichem zugleich ein Wahrnehmungsfeld bildet. Axel Möckel erzeugt solche komplexen Wahrnehmungsfelder. Und hier treffen sich die Wahrnehmungsangebote des Künstlers mit den Wahrnehmungsbedingungen seiner Rezipienten. Wie in der alltäglichen Umwelt kommt es hier im Museum zu vielschichtigen Überlagerungen und zur variantenreichen Ausformung von Strukturen, die nicht leicht - oder vielleicht gar nicht - auf einfache Ordnungen zurückgeführt werden können.

Axel Möckel zeigt Tafelbilder, Objekte und papierne bewegliche Gebilde, und er hat Mikrophone und Lautsprecher aufgebaut, die in skulpturalen Elementen teils versteckt, teils präsentiert sind. All diese Elemente bilden gemeinsam ein sehr dichtes und vielschichtiges Wahrnehmungsfeld, aus dem Einzelnes kaum isolierbar ist. Die komplexe Gleichzeitigkeit von visuellen, akustischen und kinetischen Informationen bildet eine Parallelwelt zur uns alltäglich vertrauten Umwelt mit ihrer Vielfalt von Klängen und Geräuschen, von Farben und Gestaltungen, geschriebenen und gesprochenen Worten. Und wir sind gewöhnlich inmitten von Dingen, die an uns vorüberziehen, oder deren Anblick sich im Vorbeigehen ändert. Um dem Chaos dieser verschiedenartigen Eindrücke zu entkommen, ordnen wir gewöhnlich all diese Wahrnehmungen Interpretationsmustern zu, die die Vielfalt reduzieren: Geräusche werden zu bellenden Hunden, in flirrend vorüberziehenden Schemen erkennen wir Fahrradfahrer, und anstelle unendlicher Farbnuancen sehen wir eßbares Gemüse.

Offensichtliche Unordnung also wird in Ordnungen und Zuordnungen überführt. André Barre, der in den 60er Jahren ein perspektivisches Konstruktionsverfahren entwickelt hat, beschrieb die Schwierigkeiten, die ihm beim Versuch begegneten, die Gesamtheit der erscheinenden Dinge zu ordnen, so: "Wenn doch wenigsten die Natur", schreibt Barre, "aus glattpolierten und sauber gemalten Oberflächen bestünde! Doch auch hier behält die Unordnung die Oberhand. Das Rot des Apfels enthüllt sich endlos, selbst durch die Lupe betrachtet, wie ein Mosaik, das aus Steinchen der verschiedensten Rotnuancen zusammengesetzt ist. Wollte man das Aussehen der Dinge in ihrer Gesamtheit erfassen, müßte man auf einen wilden Pointillismus zurückgreifen."

Axel Möckel will nun gerade nicht die Dinge in ihrer Gesamtheit erfassen. Anstatt in 'wilden Pointillismus' ausbrechen zu müssen, ist Möckel deshalb frei, Strukturen, Muster, Melodien und Geräuschabfolgen zu finden und zu erfinden, um mit ihnen eigensinnige und intuitive Ordnungen anzulegen, die mit der kognitiven Erfassung und Dechiffrierung von Phänomenen nichts zu schaffen haben.
In den komponierten Klängen sind wohl melodiöse Elemente enthalten, die uns wie traurig erwachsen gewordene Kinderlieder anrühren können. Doch die so angestimmten Themen werden von zunächst ganz und gar unmelodiös wirkenden Zwischentönen überflutet, die angeklungenen Themen werden in endlos wuchernde Varianten aufgelöst, die einer geheimnisvoll dunklen Spur folgen. Es ist keine logische Spur. Möckels Klangfolgen sind von gleichfalls am Computer generierten Technosounds ebensoweit entfernt wie von ordentlich komponierten Fugen. In gewisser Weise reagiert Möckel, der ja selbst sein erster Hörer ist, mit immer neuen Varianten auf ein einmal gefundenes Thema.

Und Möckels Themen kreisen eigentlich fast immer um das Zusammenspiel äußerer Eindrücke und innerer Empfindung. In, den Klangkompositionen ganz ähnlicher, mit nachtwandlerischer Sicherheit ordnender Weise, operiert Möckel mit Worten und Sätzen. Gänzlich unzusammengehörig scheinendes packt er in der Installation 'Hier' nebeneinander: 'Moosgeruch' trifft auf 'Faxverkehr'. Und es entspricht ganz diesem Prozeß intuitiver Reflexion, daß Axel Möckel in der anderen Installation dort, 'Raumspiel' hat er sie genannt, einen Teil der Papierschiffe mit Auszügen aus seinen Tagebüchern beschriftet hat und andere mit chiffreartigen Musterungen bedeckte. Es entspricht auch diesem Fließen von Gedanken und zeichnend malender Handschrift, daß sich die Schiffchen bewegen können. Manchmal bilden sie geschlossene Formationen und manchmal, wenn einige sich mit Bug oder Heck zum Betrachter hin gedreht haben, verbinden sich die Formationen mit den Strukturen der dahinter hängenden Tafelbilder.

Hier erscheinen wieder sich überlagernde Strukturen, die vielfältige Variationen um themaartig anklingende Zeichen bilden. Die offensichtliche Rasterung einiger Bilder verleitet, eine Ordnungsstruktur ausmachen zu wollen. Doch die Kunsterfahrung, die hier eröffnet wird, fordert das Bedürfnis nach Logik und Ordnung, und unsere konditionierten Anstrengungen, die Welt zu begreifen, gerade heraus. Die Ausformung der Varianten in den Bildern erzeugte im Produktionsprozeß eine strukturelle Vielfalt, die letztlich irreduzibel ist. Die schweifenden Augen mögen Form und Struktur suchen, erlebt werden immer neue Abweichungen und in solchen Modulationen die Bandbreite des Themas. Des Binnenthemas der Bilder und des Themas der Ausstellung überhaupt. Denn in Axel Möckels Verständnis sind die Bildwelten Wirklichkeitsbausteine für Betrachter. Die eigentliche Vielfalt und Bandbreite der Malerei beginnt erst während und durch das Ereignis der Rezeption. Das Bild entsteht im Betrachter, sagt Möckel. Nicht zwei von Ihnen sehen dasselbe Bild.

Denn Sehen ist wie jede Form der Aneignung von Wirklichkeit ein aktiver Prozeß, in den Vorkenntnisse, Erwartungen und Erinnerungen einfließen. Daß das Sehen ein Tun ist, klingt schon in der antiken Theorie vom Sehstrahl an. Man hat damals angenommen, es müsse notwendigerweise etwas aus dem Auge austreten, das die Außenwelt abtastet, so daß sie überhaupt erfahrbar wird. Heute glaubt man (in einem Forschungszweig der sich 'Otoakustik' nennt) herausgefunden zu haben, daß das Ohr Töne aussendet, und daß diese Schallwellen mit den Schallwellen, die uns umgeben, interferieren. Wie es mit den Augen steht, ist mir nicht bekannt. Gewiß ist, daß all die verschiedenen Sinneseindrücke in uns aufs engste vernetzt sind, und daß solche Vernetzung unsere Wahrnehmungen leitet und Erinnerungen prägt.

Ich möchte das als Bild nehmen für ein Kernstück dieser Ausstellung, die interaktive Klanginstallation. Sichtbar davon sind die beiden fröhlich-fragilen Obelisken, die Mikrophone in sich tragen. Die Mikrophone nehmen alle absichtlich oder unabsichtlich erzeugten Geräusche im Raum auf. Mit Hilfe einer interaktiven Klangsteuerung werden die Geräusche in Klänge umgewandelt, die, am Computer erzeugt, als Module bereitliegen. Nach allem bislang Gesagten überrascht es nicht mehr, daß hier nicht die Töne von Instrumenten nachgeahmt werden, und nicht konkrete Melodien erzeugt werden - sondern daß immer neue Abfolgen von Strukturen mit wechselnder Dynamik sich überlagern zu einer im Prinzip unendlichen Bandbreite an Variationen.

Hier kann nun deutlicher werden, in welche Richtung der programmatische Titel dieser Ausstellung vordringt. Im absichtslos aktiven Rezeptionsereignis werden in der Klanginstallation Welten erzeugt. 'Welten' entstehen im Zusammentreffen von vom Künstler strukturiertem Anlaß und der subjektiven Reaktion und Aktion von Besuchern. Sie sind je besonders, diese verschlungenen Welten, und als 'In-der-Welt-sein' jedes Einzelnen Bausteine des merkwürdigen Gewebes, das wir 'Wirklichkeit' nennen. In diesem Sinne überlasse ich Sie nun der hoffentlich lustvollen Erfahrung und dem Vergleich und dem Austausch Ihrer Seh- und Hörerlebnisse.

 

 

Axel Möckel

geb. 1949 in Timmendorfer Strand, gest. 1999 in Berlin

Studium bei Prof. Knispel und Prof. Kuhn, Hochschule der Künste Berlin.

1975 Meisterschüler bei Prof. Hödicke, Hochschule der Künste Berlin.

Seit 1979 zahlreiche Einzel- und Gruppenausstellungen,
ab 1987 Teilnahme und Auszeichnungen bei zahlreichen Film- und Videofestivals.

1999 Ausstellung 'Welten - Bausteine der Wirklichkeit' im Stadtmuseum Siegburg

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