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Gabriele Schmid:  Die Dauer des Blicks
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II.2. Ingres: 'Die große Odaliske'

 

Das ganze Bildformat füllend liegt die 'Große Odaliske' (Abb. 7) von Ingres im Bild. Ihr in einem geschwungenen Bogen von links oben nach rechts unten geführter Körper ist, aufgestützt auf den linken Arm, halb aufgerichtet; der Kopf ist im Dreiviertelprofil, der Oberkörper von hinten sichtbar; das linke Bein hat sie über das ausgestreckte rechte gelegt, dessen Fußspitze rechts unten vom Bildrand angeschnitten wird. Der flache Raum wird von der Ruhestätte, einem blauen, gepolsterten und mit vielerlei Tüchern bedeckten Bett oder Sofa vollständig eingenommen. Die bildparallele Rückwand ist rechts zu einem Drittel mit einem blauen Seidenvorhang verhängt, am linken Bildrand ist ein schmaler Streifen desselben Stoffes sichtbar. Das Ambiente ist über Accessoires - die 'Odaliske' trägt einen Turban, am rechten Bildrand steht ein kleines, rauchendes oder dampfendes Öfchen, an dem eine Pfeife lehnt - als orientalisch charakterisiert.
Verschiedene lineare und flächige Systeme bestimmen die Komposition. Der Angelpunkt, in dem die Systeme aufeinandertreffen, ist das im geometrischen Zentrum liegende linke Knie. Die Grundstruktur der Flächeneinteilung ist eine nahezu gleichmäßige Quadrierung: in der Horizontalen durch die verborgene Hinterkante des Bettes markiert, in der Vertikalen durch die Linie zwischen den blauen Kissen und die Absetzung im rückwärtigen Mauerwerk. Die größere Fläche des rechten Seidenvorhangs verschiebt das kompositorische Zentrum nach links bis vor ihren Blick. Ein Gegengewicht bildet das farbkompositorisches Zentrum: ein Fächer, den sie in ihrer rechten Hand hält, und in dem alle im Bild vorkommenden Farben zu einem Klang vereinigt sind. Der Fächer bildet zudem das Mittelteil einer räumlich geschwungenen Diagonale, die Mittel- und Vordergrund zusammenzieht. Sie beginnt in den Faltenwürfen des rechten Vorhangs und endet in der Linie zwischen weißem Tuch und Pelzdecke. Der Vorhang ist an einer weiteren, gegenläufigen Diagonalen beteiligt: sie beginnt an ihrem linken Knie, läuft über das Vorhangteil, das ihren Unterschenkel bedeckt, wird von diesem aufgenommen und führt als Vorhangkante über den Rand des Bettes rechts unten aus dem Bildformat. Auch diese räumliche Diagonale verbindet Mittel- und Vordergrund.
Die zweite Hälfte der zuletzt beschriebenen Diagonalen bildet zusammen mit der rechten Kante der Pelzdecke eine perspektivische Andeutung, die in den dunkel verschatteten Bereich der Vorhangfalten führt: sie verbindet Bild- und Betrachterraum.
All diese räumlichen Andeutungen bilden keinen illusionistischen Tiefenraum, sondern führen im Gegenteil die Raumebenen des Bildes zu einer Fläche mit volumenhaften Andeutungen zusammen. Entsprechend ist auch der Luftraum nicht atmosphärisch: Der Rauch des Öfchens bildet eine Fläche mit dem dahinterliegenden Vorhang. Diagonalen in allen vier Ecken des Formats - die Oberkante des blauen Kissens links oben, der Faltenwurf rechts oben, der Fuß rechts unten und das gelbe Tuch links unten - schließen die Komposition.
Die wesentliche Verbindung zwischen Bild- und Betrachterraum erzeugt der Blick der Gestalt, der allein frontal dem Betrachter zugewandt ist. Dem Blick gegenüber liegt die Lichtquelle. Der frontale Blick bildet über die Dreiviertelansicht des Kopfes und der Rückenlinie einen räumlich gedrehten Bogen; über die - anatomisch unmögliche - Stellung ihres linken Beines entsteht ein zweiter, der die Abwendung des Oberkörpers relativiert und eine Bewegung suggeriert, als wäre sie im Begriff die Abwendung aufzuheben oder eben zu vollziehen.
Die Kontur zieht den räumlichen Körper zu einer Fläche zusammen und suggeriert zugleich 'Allansichtigkeit' und Bewegung. Die Staffelung der Kontur führt über den Kopf, die rechte Schulter, das linke Knie, die rechte Hand, den linken Fuß, den rechten Unterschenkel und den rechten Fuß. Der abgewinkelte linke Arm beantwortet die Staffelung der Kontur. Die große Gegenbewegung zur Konturstaffelung ist die geschwungene Linie des Rückens, die der rechte Arm aufnimmt und die der gegenläufige Schwung von rechter Hüfte und rechtem Oberschenkel beantwortet. Das rechte Ohr nimmt die Gesamtbewegung des Körpers auf, oder umgekehrt initiiert die geschwungene und gedrehte, zugleich geöffnete und geschlossene Form des Ohres die Bewegung des Körpers. Die Zugehörigkeit zu Bildfläche und angedeutetem Bildraum gleichermaßen erzeugt die Beweglichkeit der Figur; aus der Bewegungsrichtung nach vorne und hinten zugleich resultiert ihre Zugehörigkeit zu Bildwelt und Betrachterwelt.
Die Bewegungstendenz der Figur klingt in den Faltenwürfen der Tücher fort. Das weiße Tuch erwidert in den Überschneidungen des Gesäßes den Rhythmus der Kontur. Entsprechend der Kontur zeigt der Faltenwurf keine einheitliche und eindeutige Richtung an, die linearen Bewegungen sind vielfach gedreht und gebrochen. Das System der geschwungenen und gebrochenen Linien des Körpers und der Tücher konterkariert das System der exakten Senkrechten und Waagerechten des Bettes und des Hintergrunds.
Helle Gelb- und Blautöne dominieren die Farbkomposition, die auf den Primärfarben Rot, Blau und Gelb aufgebaut ist. Das Rot überzieht in Form von Einsprengseln das ganze Bild. Rote Einsprengsel sind im Muster der Vorhänge, im Turban, im Fächer, in der Pfeife, in den Geschmeiden in ihrem Haar und im Vordergrund.
Die Farbigkeit zieht das Bild zu einer Einheit zusammen und verbindet das durch die verschiedenen linearen Systeme Getrennte. Die Figur ist durch die ihr beigegebenen Accessoires, das kühle Weiß des Kopftuchs, den alle Farbklänge vereinigenden Fächer, die vielfachen Überschneidungen ihrer Kontur durch den Vorhang und die Tücher, hauptsächlich aber durch ihr Inkarnat, in dem die Grundfarben vereinigt sind, mit der Gesamtkomposition verwoben. Ihr Inkarnat ist nicht von der einheitlichen Farbigkeit Giorgiones; es schimmert verhalten rötlich an den vorderen Stellen, gelblich und grünlich an den abgeschatteten, dem Hintergrund zugeneigten Partien. Die Binnenkonturen sind bläulich oder rötlich getönt, am deutlichsten die des linken Fußes. Der Turban, das Armband und der Fächer korrespondieren mit dem weißen und gelben Tuch und dem Ofen. Hinter-, Mittel- und Vordergrund sind in der Figur durch die korrespondierenden Tönungen des Mauerwerks, ihres Haares, ihrer Augen und der Pelzdecke verbunden. Das Inkarnat spiegelt sich wider im Blau des Kissens, das weiße Tuch ist gelblich und rötlich getönt, ein gelber Schimmer liegt auf den seidenen blauen Vorhängen.
Die Malweise ist nicht einheitlich. Inkarnat und Accessoires sind verschieden dargestellt. In der Haut sind sanfte, kaum merkliche Farbübergänge, die Weichheit erzeugen und die Haut nicht greifbar werden lassen, sondern eine 'Bewegungsunschärfe' suggerieren.
Dagegen sind das Geschmeide, die Tücher, der Ofen - aber auch ihre Augen - von einer fast haptischen Plastizität. Die haptisch gemalten Details und die roten Einsprengsel in Vorhang, Turban, Geschmeide und Ofen bilden gleichsam ein über das Bild gelegtes Netz, das die Komposition erst eigentlich konstituiert. Dieses Netz hält die bewegliche Figur in der Fläche fest, aus der sie sich sonst kraft ihrer arabeskenhaft verschlungenen Haltung und der Beweglichkeit ihres Fleisches herausdrehen würde.
Die Beweglichkeit ihres Körpers scheint ihr irdisches Gewicht - auf andere Weise als bei Giorgione - aufzuheben. Sie beginnt nicht zu schweben, sondern sich selbst in der Raumscheibe des Bildes zu bewegen, ohne einfach definierte Zielrichtung. Ihre Bewegung wird nicht durch ihr Gewicht sondern durch das Netz der Accessoires gehemmt, das sie in der Fläche fixiert. Fixiert und beweglich zugleich ist der Bezug der Figur zum Betrachter durch ihren frontalen, direkten Blick und durch die Malweise des Fleisches und ihre mehrfach codierte Körper-haltung.


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