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Gabriele Schmid:  Die Dauer des Blicks
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II.3. Manet: 'Olympia'

 

Ein ausladendes Bett dominiert den flachen Bildraum. Darauf liegt klein und angespannt die 'Olympia' (Abb. 4), den Oberkörper halb aufgerichtet und gestützt von aufgeschichteten Kissen. Grüne Vorhänge hängen in der rechten Bildhälfte vor einem in die Tiefe führenden Raum, der nur durch einen schmalen Spalt zwischen den Vorhanghälften angedeutet ist. Links, direkt hinter dem Bett, begrenzt eine gemusterte, rotbraune Wand den Raum. Rechts hinter dem Bett steht, in einem leuchtend rosafarbenen Kleid, eine Negerin, die einen Blumenstrauß in Händen trägt. Zu Füßen der 'Olympia' steht am rechten Bildrand eine kleine, den Betrachter anfauchende, schwarze Katze.
Manet hat die Komposition der 'Olympia' überwiegend von Tizian übernommen: Ähnlich wie in der 'Venus von Urbino' 6 ist die Disposition der Figur auf dem Untergrund, ähnlich ist der diagonale Schwung des grünen Vorhangs in der linken oberen Bildecke, ähnlich ist das weiße Tuch um die Matratze geschlungen und gibt in der linken unteren Ecke den Blick auf das rotbraune Polster frei. Die Teilung des Hintergrunds hat Manet aus der Mitte nach links verschoben. Das Zentrum des Bildes liegt auf dem Grenzpunkt zwischen dem grünen Vorhang und der linken Oberschenkellinie 'Olympias'. Auf das Zentrum und auf 'Olympias' Schoß deutet eine Ecke des um den Blumenstrauß geschlungenen weißen Papiers.
Trotz der vielfachen Bezüge und Parallelen zu Tizian ist die Ausformung der Bildelemente deutlich verschieden. Die Diagonale des Körpers beschreibt weniger eine geschwungene Linie denn einen Winkel. Der Körper ist eckiger, alles an ihm ist aufrecht und gestreckt. Wie bei Giorgione ist der Körper leicht gedreht. Während bei Giorgione die Drehung des Leibes zweifach ist - frontales Gesicht, in die Tiefe gewandter Oberkörper, nach vorne gewandter Unterkörper - so ist sie bei Manet einfach und umgekehrt: Gesicht und Oberkörper sind dem Betrachter zugewandt, während Unterkörper und Beine flach auf der Liegestätte ruhen und so vom Betrachter abgewandt erscheinen. Die Öffnung des Körpers durch die Richtung ihres linken Beins und Fußes auf den Betrachter zu wird durch den Pantoffel wieder zurückgenommen; es ist nicht zufällig, daß dieser Fuß bedeckt und der fast dahinter verdeckte entblößt ist. Der Körper liegt im Vergleich zu Tizian höher im Bild und ist in Bezug auf das Bildformat kleiner; er wirkt gleichsam aufgebahrt. Deutlich spürbar ist die Festigkeit des Fleisches und das Knochengerüst unter der Haut. Die feste Kontur und die Winkel der Glieder schließen die Figur in sich, die Linien münden wie bei Giorgione in ihrem Schoß, den sie mit der linken Hand in einer gleichsam demonstrativen Geste bedeckt. Das Bett - Krankenbett oder Schaufensterdekoration - wird angestrahlt von einem übernatürlich hellen Licht, gleich einem Scheinwerfer, das den Eindruck erweckt, Laken und Inkarnat selbst würden Licht abgeben. 7 Der Lichteinfall ist wie bei Ingres frontal, die Lichtquelle liegt gegenüber ihrem Kopf.
Der Helldunkelkontrast bildet den Rahmen für die Koloristik. Im Vergleich zu Ingres sind die zumeist grau und schwarz abgedunkelten Partien im Inkarnat weniger farbig. Schwarz oder grau sind auch die Linien der Kontur und die Binnenkonturen. Erst auf den zweiten Blick sichtbar sind die feinen farblichen Verbindungen: die bläulichen Abstufungen am linken Unterschenkel und an der rechten Brust, die rötlichen Schattierungen an der rechten Hand, an der linken Brust und im Gesicht.
Der dominante Farbklang bewegt sich zwischen dem dunklen Grün der Vorhänge und dem Rosa des Kleides der Negerin. Das koloristische Zentrum ist der Blumenstrauß, in dem alle Farben vereinigt sind. Das Braun von 'Olympias' Haar ist ihre einzige Verbindung zur rotbraunen Wand im Hintergrund. Farbig sind die Faltenwürfe des Lakens, dessen blendendes Weiß die gelblichen und farbig grauen Abtönungen allererst erzeugen.
Durch den harten Helligkeitskontrast zwischen Vorder-, Mittel und Hintergrund erzielt Manet die Wirkung eines flachen Bühnenraums. Die Verbindung zwischen Vorder- und Hintergrund knüpft die Figur der Negerin. Sie gehört durch ihr Inkarnat dem Hintergrund an, das Kleid schafft die Verbindung zum Inkarnat der 'Olympia' und der Schleife in ihrem Haar, die Halskrause die zum weißen Laken. Vorder- und Hintergrund sind verbunden durch das warme Rot des unbedeckten Polsterteils und der schmalen Aussparung am linken unteren Bildrand, das gedämpft in der Wand des Hintergrunds wieder auftaucht.
Manets Komposition ist von derselben konsequenten Durcharbeitung und Ausgewogenheit wie die seines Vorbildes Tizian. Er übernimmt die Massenverteilung und die Hauptlinien der Komposition (in der Figur der Negerin sind die Massen der beiden Figuren Tizians zusammengefaßt, Meier-Graefe führt sogar den Umriß der Negerin auf die Konturen der beiden Figuren Tizians zurück 8 ). Aber die Ausformung ist härter und direkter, gleichsam entschleiert. Die geschwungene Linie weicht der hart umgrenzenden Kontur, unter der die greifbare Festigkeit der voneinander getrennten Körper im Raum spürbar wird. Trotz der strengen Komposition ist die Wirkung die eines photographischen Ausschnitts, in dessen Zentrum der Fotograf das Motiv seiner Bedeutung wegen gesetzt hat. Indem nicht wie bei Ingres verschiedene lineare Systeme gegeneinandergesetzt sind, sondern ein lineares System Figur und Grund trägt, erhält die Figur nicht die Möglichkeit zur Bewegung. Trotz ihrer zentralen Position bestimmt nicht die Figur den sie umgebenden Raum, sondern sie wird vielmehr von ihm um- und begrenzt.
Ebenso wie keine verschiedenen linearen Systeme im Bild aufeinandertreffen, gibt es keine Differenz in der malerischen Behandlung der verschiedenen Stofflichkeiten und Gegenstände. Gegenstand des Pinsels ist die Haut ebenso wie das Laken, die Vorhänge wie die Negerin, der Blumenstrauß wie die Katze.
Letztlich zu sehen ist, wie ein Pinselstrich, rasch und sicher geführt, an den anderen grenzt oder ihn überlappt, wie der Anteil der Pigmentbeimengungen differiert und wie sich mit zunehmendem Betrachterabstand die Pinselstriche zu etwas schließen, das, gleich einem Spiegelbild, flüchtig die Erscheinung 'Olympias' zeigt.


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6 Seit Manets Reise nach Florenz 1853 hing eine kleine Kopie der 'Venus von Urbino' in seinem Atelier (Meier-Graefe, 1982, S. 145).

7 Trotz dieser Helligkeit wirkt das Inkarnat vor dem Original im Vergleich zu den Reproduktionen eher schmutzig, fast unfarbig; vielleicht der ungünstigen Beleuchtung wegen, vielleicht aber, weil in diesem hellen Bild die inzwischen deutlichen Spuren des Alterns mehr hervortreten und in stärkerem Kontrast zur raschen und leichten Malweise und der Unmittelbarkeit des Bildeindrucks stehen als in anderen.

8 Vgl. Meier-Graefe, 1982, S. 149.


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