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Gabriele Schmid:  Die Dauer des Blicks
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II.4. Modigliani: 'Liegender Frauenakt auf weißem Kissen'

 

Der ruhende Frauenleib (Abb. 8) ist diagonal von links oben nach rechts unten in die Bildfläche eingespannt. Er liegt auf einem roten, gemusterten Untergrund, wohl einem Sofa; den Oberkörper stützt ein weißes Kissen. Der fast schwarze Hintergrund ist nicht gegenständlich oder räumlich definiert, ihn unterteilt lediglich ein nach unten geschwungener horizontaler Pinselstrich.
Das Bildformat beschneidet den Körper. Der nach oben gestreckte rechte Arm ist oberhalb des Ellbogens, die Beine sind oberhalb der Knie angeschnitten. Die Linie zwischen den Beinen und die fortgeführte Nasenlinie laufen diagonal den Bildecken zu. Im Zentrum, leicht nach rechts unten versetzt, liegt der Bauchnabel.
Haltung, Ansicht und die ebenfalls zweifache Drehbewegung des Körpers entsprechen fast exakt der von Giorgiones 'Schlummernder Venus', nur bleibt der linke Arm hinter dem Leib verborgen und die Scham ist unbedeckt. Die Drehung des Körpers ist im Verhältnis zu Giorgione ausgeprägter. Die linke Hüfte ist erhoben und ebenso wie das Gesicht frontal dem Betrachter zugewandt, während Oberkörper und Brust sich der Profilansicht nähern. Abgesehen von den Anschnitten ist die Kontur innerhalb des Bildes frei, sie wird nur von der zum Kissen gehörigen weißen Raute unterhalb ihrer rechten Brust überschnitten: dadurch wird der Körper in der Bildfläche gehalten.
Die deutliche Kontur schneidet den Körper nicht aus den umgebenden Bildelementen aus, vielmehr verbindet die Kontur Figur und Grund. Die Linie gehört weder allein dem Körper noch den ihn umgebenden Bildelementen an. Sie ist ein solitäres Element zwischen beiden, das sowohl trennt als auch verbindet. Die Kontur ist teilweise - so als Linie zwischen den Schenkeln und als untere Begrenzung der Hüfte - gemalte Linie, teilweise - an der oberen Begrenzung von Taille und Hüfte - entsteht die Kontur durch Aussparungen, durch die die graue Untermalung des Untergrunds durchscheint. An manchen Stellen umfängt die Kontur Teile der umgebenden Bildelemente - so an der unteren Armlinie, die das Grau des Kissens einschließt.
Die Kontur besteht nur teilweise aus durchgezogenen Pinselstrichen. Aus zwei Schwüngen setzt sich die Linie zwischen den Schenkeln zusammen, die Kontur des unteren Armes entsteht aus zwei Pinselschwüngen, die sich eine kurze Strecke überschneiden und von denen die rechte in der Biegung der Achsel ausläuft.
Aneinandergrenzende Farbfelder erzeugen die Binnenkonturen und die Plastizität des Körpers, die weniger die funktionale Körperarchitektur als vielmehr den Zusammenhang der Gesamtform zeigt. Auch der Kopf mit seiner zeichenhaften Behandlung ist nicht unterschieden von der Ganzheit des Leibes. Die Reduzierung der Gesichtszüge entspricht der konturierenden Behandlung des gesamten Körpers.
Entsprechend der Kontur verbinden Farbkorrespondenzen den Körper mit dem Umfeld. Das Grau des Augenweiß entspricht dem des Kissens, ebenso entspricht die ins Blau und Grün gebrochene Schwärze der Pupille der des Hintergrunds. 9 Im Grau des Kissens ist das Inkarnat enthalten (allerdings nicht als impressionistische Reflexion des darüberliegenden Armes). Die seitlichen Abschattungen der Nase nehmen den Ockerton des Tuchmusters auf und in der rechten Rundung des Bauches und im linken Schenkel ist das Rot des Untergrunds enthalten. Dadurch entsteht eine horizontale Farbverklammerung, die den starken Schwung der Kontur zur rechten unteren Bildecke auffängt.
Die geschwungene braune Linie über dem Körper, in der dunklen Fläche des Hintergrunds, begrenzt vielleicht die Liegestatt der Frau. Oberhalb der Linie ist das Schwarz des Hintergrunds ins Grün gebrochen, teilweise leicht in ein dunkles Grau aufgehellt, unterhalb der Linie ist das Schwarz mit ultramarinblauen Pinselstrichen durchsetzt. Die Linie verbindet die Körperfläche durch die Farbkorrespondenz mit den Achselhaaren und dem Schamdreieck 10 mit der oberen Bildhälfte und sie fängt die stürzenden Linien der Schenkel auf. Dieselbe Funktion hat die kleine rote Ecke oberhalb des Schenkels am linken Bildrand.
Die Malweise ist größtenteils pastos. Die Materialität der Farbe nimmt im Bereich des Körpers an den helleren, reflektierenden Stellen zu, in denen die Farbe aufgetupft ist, selbst das Licht zurückwirft und so dem reflektierenden Oberflächencharakter der Haut entspricht. Die Reflexion ist derart - wie überhaupt das Helldunkel im Bild - nicht illusionistisch dargestellt, sondern kommt aus der Materialität der Farbe selbst, die Farbe wird zu 'Fleisch'. 11
Die Malweise der Haut entspringt einem Sehen aus allergrößter Nähe und erfordert dieselbe Nahansicht bei der Rezeption. Auch aus geringem Abstand betrachtet, enthüllt das Gemalte sich nicht als Illusion, indem die Pinselstriche als solche sichtbar würden wie bei Manet, vielmehr nehmen die Komplexität des enthaltenen Farbspektrums und die Weise des Farbauftrags mit der Verringerung des Betrachterabstands unaufhörlich zu, ohne daß das Dargestellte als Darstellung sich enthüllt. Zu einer Einheit fügen sich die grünlichen Schatten am Bauch, die bläulichen im rechten Schenkel und im linken Arm, die rötlichen am Hals und im Gesicht, die orangen Tönungen am Rand der linken Hüfte. An manchen Stellen erhält das Inkarnat einen durchscheinenden Charakter, als ob durch die Oberfläche hindurch das darunterliegende Fleisch sichtbar sei; so im Bereich des ausgestreckten rechten Arms und im linken Oberschenkel.
Durch die Verbindung des reflektierenden, geschlossenen und durchscheinenden, geöffneten Charakters der Haut bewegt sich der Körper zum einen als Ausstrahlung auf den Betrachter zu und zieht ihn zum anderen als Öffnung zu sich hin; ein Prozeß, der nicht an einem Punkt endet, sondern der sich entsprechend der Blickbahn des Betrachters unaufhörlich verändert und aus sich selbst erneuert.


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9 In fast allen Darstellungen von Gesichtern - ob es sich um Portraits handelt oder um Akte - nimmt Modigliani den Ton des Hintergrunds in den Augen auf, egal ob es sich um ausgeführte Augen handelt, oder um reine Flächen, die die Augen gleichsam als Leerstellen aussparen.

10 Im Unterschied zu Giorgione sind die Scham und die sichtbare rechte Achselhöhle behaart.

11 Die Bedeutung der Farbe als 'Fleisch' werde ich in einem späteren Kapitel erläutern. Siehe Kap. III.2.1. dieser Arbeit.


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