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Gabriele Schmid:  Die Dauer des Blicks
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III.    G r u n d l a g e n   d e r   I n t e r p r e t a t i o n

 

III.1.    Der nackte Leib als Motiv

III.1.1. Von der Erotik

 

Vollkommenheit schließt jede Tür.
Kenneth Clark 12

 

Der nackte Körper in der Malerei vermag aufgrund der transzendenten Kraft der Erotik die Existenz zu symbolisieren. Seine Erscheinung spiegelt diese Kraft. Der grundsätzlichen Unbestimmtheit der menschlichen Existenz wegen ist der nackte Leib weder nur Abbild einer Idee, noch nur Objekt sexueller Begierde. Abhängig von der ihm gegebenen Form in der Malerei bekommt diese oder jene Seite mehr Gewicht, ohne die andere je ganz zu verlieren.
Der Wunsch, einen anderen menschlichen Leib zu ergreifen und mit ihm eins zu werden, ist ein so grundlegender Wesenszug der menschlichen Natur, daß jedes Urteil über die 'reine Form' davon unweigerlich beeinflußt wird. Der nackte Körper weckt lebendige Assoziationen, die durch die Umsetzung in Kunst nicht vollständig verlorengehen. Die Aktdarstellung vermag eine Mischung aus Erinnerung und Sinnesempfindung zu wecken, die geeignet ist, auf den dargestellten materiellen Gegenstand hinzulenken. 13

Die Erscheinung des nackten Körpers ist eine Form der Öffnung auf den Betrachter hin. "Nacktheit ist das Gegenteil eines abgeschlossenen Zustandes, das heißt der diskontinuierlichen Existenz. Sie ist ein Zustand der Kommunikation, der die Suche nach einer möglichen Kontinuität des Seins und den Wunsch offenbart, von der Ichbezogenheit loszukommen." 14 Die Kraft der Erotik ist darauf gerichtet, die Struktur der Individuation zu überwinden und uns mit dem allgemeinen Sein zu verbinden, das nach Bataille die Qualität der Kontinuität im Gegensatz zur Diskontinuität des vereinzelten und endlichen Individuums hat; die Individuation trennt uns von der Kontinuität des Seins. In der erotischen Handlung vermögen wir das Gefühl des Befangenseins in unserer diskontinuierlichen Existenz durch ein Gefühl tiefer Kontinuität zu ersetzen. Die Verschmelzung mit dem anderen führt bis an die Grenze - nicht darüber, da jenseits der Grenze der Tod des Individuums liegt - der Auflösung der Individuen. "Im Übergang zwischen der Diskontinuität zur Kontinuität steht ... das elementare Sein als Ganzes auf dem Spiel." 15 "Es handelt sich darum, in eine auf Diskontinuität gegründete Welt so viel Kontinuität einzulassen, wie diese Welt ertragen kann." 16 Die sexuelle Erfahrung zeugt von der allgemeinen Erfahrung des Menschseins: von Freiheit und Abhängigkeit. Sie zeugt von der Möglichkeit, den abgeschlossenen Zustand der Ordnung durchbrechen zu können und vom Befangensein in demselben Zustand, da er das individuelle Sein begründet.
In der Aktdarstellung ist es die Form, die die Diskontinuität bewahrt und das Erscheinen der Kontinuität ermöglicht: sie liegt im Erscheinen des Materials und in der Verbindung zwischen Bild und Betrachter. Das ambivalente Verhältnis zwischen Ordnung und der Auflösung der Individuation im Einblick in die Kontinuität spiegelt sich in den Formen des Ideals. Sinnliche Anschauung, Erinnerung und Formvorstellungen fließen in die spezifische Ausformung des Ideals ein, und das Auftreten der Form hängt mit dem jeweiligen - kultischen bis profanen - Impuls, der ihr zugrunde liegt, zusammen.

Das vollkommene Ideal ist, wie Charles Baudelaire 17 bemerkt, gleich dem vollkommenen Kreis eine Torheit. Das ausschließliche Streben nach dem Einfachen führt zur Nachahmung des ewig gleichen Typus und läßt das individuelle Sein außer acht. "Die Künstler und die ganze menschliche Rasse wären sehr unglücklich, wenn das Ideal ... gefunden wäre. Was würde dann ein jeder mit seinem armseligen Ich anfangen - mit seiner gebrochenen Linie?" 18 Die Schönheit des Aktes rührt aus der Abweichung vom vollkommenen Schema - vom absoluten System - des Ideals, wie gering sie auch sein mag.
Die Anwendung des absoluten Schemas entspräche der lückenlosen Abbildung der Photographie, 19 in dem Sinne, daß auch sie eine - allerdings technische - Vollkommenheit suggeriert, die dem menschlichen Gedächtnis fremd ist. Im Gedächtnisbild sind zeitliche und räumliche Sprünge, da es mehr der Bedeutung der Gehalte folgt als der totalen Erscheinung des Sichtbaren. Das Kunstwerk nähert sich dem Gedächtnisbild an, indem es im Gegensatz zur Photographie den bloßen Oberflächenzusammenhang zerstört, indem es Anschauung, Erinnerung und Formgebung gleichermaßen entspringt. Sowohl eine zu verallgemeinernde als auch eine zu exakte Nachahmung sind der Erinnerung - die Baudelaire als das große Kriterium der Kunst bezeichnet - hinderlich.

Ein grundlegender Impuls der Aktdarstellung ist, die ihrer Natur nach ordnungslose Erotik mittels Formgebung dem Bewußtsein zugänglich zu machen. Die sexuelle Anziehung ist wie Geburt und Tod eine Konstante im Bewußtsein, die mit den unabwendbaren, beständigen und zeitlosen menschlichen Existenzbedingungen verbunden ist. Beruht auch die vernunftbestimmte Zivilisation auf der Fürsorge um die Mittel, die das Leben sichern, so kann doch zivilisiertes Leben nicht auf die Mittel reduziert werden, die es möglich machen. "Über diese berechneten Mittel hinaus suchen wir den Zweck ... dieser Mittel. ... Das Verlangen nach Erotik zu stillen ... ist ... ein Zweck." 20
Die Erotik ist eine Bewegung, die der Bewegung der Existenz selbst folgt. 21 Körper und Bewußtsein stehen in einem unmittelbaren Verhältnis gegenseitiger Durchdringung. Merleau-Ponty beschreibt Bezüge und Verhaltungen, die sowohl im Bereich der Geschlechtlichkeit als auch im Bereich des Bewußtseins zu finden sind. Jede körperliche Funktion, auch die geschlechtliche Erregung, ist immer in die Ganzheit des Menschen integriert. 22 Das Wesen der Sinne erzeugt die Wechselwirkung des Körpers mit der gesamten Existenz des Menschen. Die Sinne haben nicht die Funktion von Werkzeugen, ihr Sein wird vielmehr von der gesamten Existenz übernommen und angeeignet. Die leibliche Existenz ermöglicht die Sinne und durch sie können wir erst in ein Leben menschlicher Verhältnisse eintreten. Durch die Geschlechtlichkeit können wir uns den Leib - und damit der Möglichkeit nach die gesamte Existenz - eines anderen Menschen erschließen. Weder Geschlechtlichkeit noch Existenz können als Original des Menschseins gelten, da sie einander wechselseitig voraussetzen. "Der Leib vermag die Existenz zu symbolisieren, weil er sie selbst erst realisiert und ihre aktuelle Wirklichkeit ist." 23 Der Leib ist der Spiegel des Seins, weil er ein 'natürliches Ich' ist, und wir nie wissen, ob die uns tragenden Kräfte die seinen oder die unseren sind; im Gegenteil sind sie nie gänzlich die seinen oder die unseren. Die menschliche Existenz ist wesentlich zweideutig. "Geschlechtlichkeit und Existenz durchdringen einander, die Existenz strahlt in die Geschlechtlichkeit, die Sexualität in die Existenz aus, so daß die Feststellung des Anteils sexueller Motivation und desjenigen andersartiger Motivationen für einen bestimmten Entschluß oder eine gegebene Handlung unmöglich ist, unmöglich, einen solchen Entschluß oder eine solche Handlung als 'sexuell bedingt' oder als 'nicht sexuell bedingt' zu charakterisieren. ... Die Existenz ist in sich unbestimmt auf Grund ihrer fundamentalen Struktur, insofern sie selbst der Vollzug ist, durch den, was keinen Sinn hatte, einen Sinn gewinnt, was nur einen sexuellen Sinn hatte, eine umfassendere Bedeutung annimmt. ... Diese Bewegung, in der die Existenz eine faktische Situation sich zu eigen macht und verwandelt, nennen wir die Transzendenz." 24 Begierde und Liebe haben metaphysische Bedeutung.
Bataille beschreibt die der Sexualität innewohnende transzendente Kraft auf direktere Weise: Zwar ist die Sehnsucht nach der Verschmelzung mit dem anderen Wesen im Grunde das Streben nach etwas Unmöglichem, da das Ende der Individuation zugleich den Tod des diskontinuierlichen Wesens bedeutete. Dennoch ist nichts Illusorisches in der Wahrheit der Liebe. Über das geliebte Wesen verschwindet die Vielfalt der Welt für den Liebenden und wird der Grund und die Einfachheit des Seins erfaßt. Das geliebte Wesen kommt für den Liebenden der Wahrheit des Seins gleich, es bedeutet die Transparenz der Welt, da wir durch es Einblick erlangen in die Kontinuität des Seins.
Die Erotik entsteht erst in dem Moment, da sich der Mensch seiner Vergänglichkeit bewußt wird. Das volle Bewußtsein der tiefen Vereinigung muß immer zugleich von der Möglichkeit der Trennung vom kontinuierlichen Sein der Vereinigung und von der grundsätzlichen Trennung des Wesens von seinem diskontinuierlichen Sein, dem Tod, Kenntnis nehmen. Trotz der Möglichkeit der Trennung und des damit verbundenen Schmerzes scheint das kontinuierliche Sein für uns - und unser Bewußtsein - als Urgrund, der jeder Individuation zugrunde liegt, eine höhere Wahrheit zu haben als das vereinzelte Sein allein.

Die anschauliche Erscheinung des Körpers spiegelt die transzendente Kraft der Erotik; in ihr sind Abgeschlossenheit und Öffnung verbunden. Die Haut verbindet Außen und Innen des Körpers. 25 Sie ist ein sowohl abschließendes als auch durchlässiges Gewebe, im biologischen wie im visuellen Sinne. Sie vermag Stoffe sowohl abzusondern als auch aufzunehmen. Ihre Oberfläche ist transparent, lichtdurchlässig und zugleich reflektierend. Im Inkarnat sind die Primärfarben Rot, Gelb und Blau enthalten, aber es kann nicht als eine bestimmte Farbe definiert werden. "Jene besondere Substanz mit ihrer weder weißen noch rosigen Farbe, mit ihrer weichen, doch wechselnden Beschaffenheit, die das Licht aufsaugt und es auch zurückwirft, die zart und doch gespannt, strahlend und matt, zugleich schön und jämmerlich ist, bietet sicherlich das schwierigste Problem, das jemals einem Maler mit Hilfe von dickflüssigen Pigmenten und mit klebendem Pinsel zu lösen auferlegt wurde." 26


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12 Clark, 1958, S. 118.

13 Wegen des Assoziationsreichtums des dargestellten nackten Körpers liegt eine Schwierigkeit des Aktmotivs darin, daß die erotischen Empfindungen in den Vordergrund rücken können und dergestalt die Einheit jener Eindrücke zu gefährden drohen, denen das Kunstwerk durch die Verbindung von Form und Empfindung sein eigenständiges Leben verdankt. Es mag dies eine Erklärung dafür sein, daß Aktdarstellungen zumeist stärkerer Formalisierung unterliegen als Porträts desselben Malers. In diesem Untersuchungskontext ist das sowohl bei Giorgione und Ingres als auch bei Modigliani der Fall.

14 Bataille, 1963, S. 17.
Bataille erklärt den Wunsch nach der Verschmelzung in der Erotik durch die Fortpflanzung. In ihr liegt der wesentliche Schlüssel zum Sinn der Erotik. Die Fortpflanzung arbeitet mit Wesen, die aufgrund ihrer Endlichkeit diskontinuierlich sind. Sowohl die sich fortpflanzenden Wesen als auch das von ihnen gezeugte Wesen sind voneinander verschieden. In der geschlechtlichen Fortpflanzung tritt während der Vereinigung der diskontinuierlichen Teile - Spermatozoon und Eizelle - die Übergangsform der Kontinuität auf, und zwar zugleich mit dem Tod der diskontinuierlichen Wesen. Für die diskontinuierlichen Wesen hat der Tod den Sinn einer Kontinuität des Seins. Batailles weiterer Gedankengang wird von der Identität zwischen Erotik und Tod durch die verbindende Kontinuität bestimmt, dem ich hier nicht weiter folgen werde.

15 Bataille, 1963, S. 16.

16 Bataille, 1963, S. 18.

17 Vgl. Baudelaire, 1990, Vom Ideal und vom Modell, S. 59-63.

18   Baudelaire, 1990, S. 60.

19 Vgl. Kracauer, 1977, Die Photographie, S. 21 - 39.

20 Bataille, 1965, S. 9.

21 Vgl. Merleau-Ponty, 1966, IV. Der Leib als geschlechtlich Seiendes, S. 185 - 206.

22 Merleau-Ponty erläutert diese Zusammenhänge an psychoanalytischen Fallbeispielen, die ich hier nicht weiter ausführen werde (Merleau-Ponty, 1966, S. 189 ff).
Bataille, der von der Erotik der Körper die der Herzen unterscheidet, schildert letztere als Leidenschaft, in der die Liebenden die Verschmelzung, die zwischen den Körpern stattfindet, auf der geistigen Ebene fortsetzen, oder in der umgekehrt die geistige Sympathie Auftakt der leiblichen Begierde ist.

23 Merleau-Ponty, 1966, S. 197.

24 Merleau-Ponty, 1966, S. 202.

25 Das ambivalente Verhältnis von Innen und Außen kulminiert im Blick. Siehe Kap. III.2.3. dieser Arbeit.

26 Clark, 1958, S. 147.


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