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Gabriele Schmid:  Die Dauer des Blicks
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III.2.3.   Der Blick und der Andere

 

Das Auge sieht den Himmel offen
Anonym

 

 Auf dem Blick mit seinen sinnstiftenden und physiologischen Eigenschaften gründet die Möglichkeit einer Kommunikation zwischen Bild und Betrachter, in der auf der einen Seite das Abbildhafte des Dargestellten und auf der anderen Seite die bloß physiologische Aufnahme des Abgebildeten überschritten werden kann.
  Die Revision des Sehens beginnt an der Aufhebung der Frontalität als Struktur von vorstellendem Ich, dem das Bild als frontales Ding gegenüberliegt. Das Bild ist nicht frontal, weil es gleich dem Leib des Betrachters im Dinglichen eingerichtet ist; das Auge ist deshalb nicht gleich dem Kameraauge frontal, weil es bei aller Öffnung auf die Welt hin den eigenen Körper betrachten kann. Merleau-Ponty nimmt durch seine Formel 'J'en suis' dem Ort des Auges gegenüber den Dingen seine scheinbare Selbstverständlichkeit. Die Zugehörigkeit zur Welt äußert sich primär in der Erfahrungswelt des Auges und seinem bevorzugten Darstellungsorgan, dem Bild.

Das Sehen ist weder allein ein physiologisches Ereignis, noch allein ein historisches Artefakt. Seine Produktivität und die in der Wahrnehmung geborgenen Möglichkeiten der Sinnerschließung haben mit der Verknüpfung beider Aspekte zu tun. Die visuelle Wahrnehmung ist immer zugleich eine Erfahrung des gesamten Leibes. Der Leib ist das Ganze der Sinne und nicht eine Hülle, in der die Sinne zusammengefügt sind. Die Übersetzung der Sinne ist im Leib immer schon vollzogen, sie ist der Leib selbst. "Hier erscheinen die 'visuellen Gegebenheiten' nur im Durchgang durch ihren taktilen Sinn, die 'taktilen Gegebenheiten' nur im Durchgang durch ihren visuellen Sinn, jede lokale Bewegung nur auf dem Untergrunde der Gesamtstellung." 62 Jede Handlung eines Körpersegments und jede Wahrnehmung trägt zu einer bestimmten Haltung des ganzen Körpers bei. Umgekehrt verändert die Körperhaltung bei gleicher sensorischer Stimulation die neuronalen Reaktionen im Sehzentrum; durch die neuronale Vernetzung entsteht eine Wechselwirkung zwischen Sensorium und Motorium. 63 Die sensorische Wahrnehmung und die motorischen Reaktionen des Leibes sind verbunden mit der gesamten Existenz. 64

Der Blick hat - wie die Erscheinung des Leibes - den zweifachen Charakter von Innen und Außen, von Aufnahme und Äußerung. 65 Im Blick sind Körper und Welt verschränkt, über den aufnehmenden Blick geht die Welt in den Maler ein, über die Äußerung seines Blickes er in die Welt. Das Sehen ist ein Mittel, die Abgeschlossenheit des Seins zu durchbrechen und unter den Dingen zu sein. Die Dinge gehen in den Maler über und zugleich "tritt der Geist ihm aus den Augen" 66 , um sich unter den Dingen zu ergehen. Zwischen dem Maler und dem Sichtbaren kehren die Rollen sich um. Das Sichtbare sieht ihn, so "daß man nicht mehr weiß, wer sieht und wer gesehen wird, wer malt und wer gemalt wird." 67 Das Malen ist dergestalt eine Spiegelung des Universums, dasselbe Ding ist dort in der Welt, über den Blick hier, im Innern des Malers und durch ihn dort, auf der Leinwand.
In der Aktdarstellung korrespondieren Leib und Blick des Malers mit denen des Modells. Insofern der Maler als Medium begriffen wird, durch dessen Hand das Gesehene zum Sichtbaren wird, gehen der doppelt gekreuzte Blick von Maler und Modell in die Leinwand ein.

Zum Blick von Welt und Maler tritt der des Betrachters. Das Bild, das zuerst durch den Maler zwischen Welt und Leinwand war, ist jetzt zwischen Leinwand und Betrachter. Das Bild ist, im Falle der Aktdarstellung, Blick und Leib des Modells, des Malers, der Blick des Materials (als 'Fleisch') und des Betrachters; in dieser vielfachen Vernetzung der Blicke erscheint das Bild.
Bild und Betrachter stehen über den Blick in einem unmittelbar kommunikativen Verhältnis. Durch die Verschränkung des Blicks mit dem Leib übt der Körper auf jede Art von Urteil über eine Form und sogar auf die Auffassung von dem als 'richtig' bezeichneten Winkel einen Einfluß aus. 68 "Tonart und Rhythmus des Körpers (lassen sich) nicht leicht übergehen. ... Der Rhythmus unserer Atemzüge und der Schlag unseres Herzens sind Teil der Erfahrung, auf Grund derer wir ein Kunstwerk abschätzen." 69 Nicht nur die Körperhaltung und Konstitution des Betrachters beeinflussen seine Wahrnehmung des Bildes, sondern umgekehrt beeinflussen die Konfiguration der Bildelemente und die Größe der Bildfläche im Verhältnis zur Größe des Betrachters seine Körperhaltung vor dem Bild und damit die Weise seiner Wahrnehmung. Die Kreisbewegung der Wahrnehmungsbedingungen und -veränderungen ist potentiell von unendlicher Dauer. Aus ihr können fortwährend neue Verknüpfungen und Bedeutungen hervorgehen.


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62 Merleau-Ponty, 1966, S. 180. Der Blick ist mit dem Leib verschränkt. Die aufnehmenden Nervenenden laufen nicht ausschließlich zum Sehzentrum, sondern zum Teil direkt ins Mittelhirn, ins vegetative Nervensystem. Dergestalt haben die wahrgenommenen Dinge einen unmittelbaren Einfluß auf den Körper, ohne durch das Großhirn gefiltert zu werden.

63 Varela, 1990, S. 72. Durch die neuronale Vernetzung hängen die neuronalen Reaktionen direkt von anderen Neuronen ab, die von den eigenen rezeptiven Feldern weit entfernt liegen.

64 Grundlegend dafür ist die Unbestimmtheit der menschlichen Existenz. Siehe Kap. III.1.1. dieser Arbeit.

65 Die Nervenstränge zwischen Auge und Gehirn verlaufen in zweifacher Richtung. Es gibt solche, die Sinnesreize aufnehmen und in das Sehzentrum weiterleiten und solche, die in umgekehrter Richtung vom Gehirn zum Auge verlaufen. Varela und Maturana begreifen die Nervenfasern, die zum Auge laufen als Indiz für die Beschränkung der visuellen Wahrnehmung auf das, was das Gehirn ihm vorgibt zu sehen. Sie könnten aber auch begriffen werden als für das Gegenüber sichtbare Äußerung des Auges, als Mittel für eine 'neuronale Kommunikation'. Dieser Gedanke - obgleich unbewiesen und nur auf eigene visuelle Erfahrung gegründet - spielt in meine spätere Auslegung des Blicks im Bild hinein.

66 Nicolas de Malebranche, zitiert nach: Merleau-Ponty, 1984a, S. 20.

67 Merleau-Ponty, 1984a, S. 21.

68 Die Verteilung von Flächen auf einem Körper hängt mit unserer lebendigen Erfahrung zusammen, so daß abstrakte Formen wie das Viereck und der Kreis uns als männliche und weibliche Formen erscheinen, "und die Quadratur des Kreises, das ewige Ziel mathematischer Zauberkunst, ist ein Symbol für die leibliche Verschmelzung." (Clark, 1958, S. 29).

69 Clark, 1958, S. 29.


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